Herfried Münkler. Interview mit dem Politikwissenschaftler über die Folgen des Brexits und die Us-präsidentenwahl 2020.
INTERVIEW. Die Briten wollen aus der EU, die USA wählen einen Präsidenten und die CDU sucht einen Kanzlerkandidaten – ein Blick auf das Jahr 2020 mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
Herr Münkler, im Jänner kommt voraussichtlich der britische Abschied von der EU. Ist der Brexit Anfang einer Zerfallserscheinung der EU? HERFRIED MÜNKLER: Die Schwierigkeiten, in die sich die Briten selbst gebracht haben, sprich die innere Spaltung des Landes, bleibt auch nach dem Brexit bestehen. Das dürfte weitere Kandidaten davon abhalten, die EU zu verlassen. Aber mit Großbritannien verliert die EU auch an Handlungsfähigkeit, nicht nur militärisch. Besonders Deutschland wird dies noch zu spüren kommen. Nicht allein wegen der engen Wirtschaftsverbindungen zu Großbritannien. In der steten Eudebatte zwischen französischem Staatsdirigismus und britischem Wirtschaftsliberalismus konnten Länder wie Deutschland und Österreich eine bequeme Vermittlerrolle einnehmen. Diese komfortable Mittellage ist überholt. Noch eine Folge zeichnet sich ab: Die verbleibende EU wird sehr viel kontinentaleuropäischer geprägt sein, die transatlantische Position wird schwächer.
Im Februar startet mit den Vorwahlen in Iowa das Präsidentschaftswahljahr in den USA. Das erratische Verhalten von Präsident Trump weckt auch Zweifel an einem großen Vorteil der Demokratie: der Personalauswahl. Sehen wir in den USA die Krisensymptome der westlichen Demokratie oder die Krise einer wankenden Weltmacht?
Beides. Den USA kam, zunächst im Kalten Krieg nur für den Westen, dann nach 1989 für eine kurze Zeit global, die Rolle des Hüters der internationalen Ordnung zu. Und die USA haben die Position angenommen. Wenn sich das Land inzwischen aus dieser Rolle verabschiedet, gibt es keinen, der sie einnehmen kann. Manche glauben, China könnte diese Funktion übernehmen, aber das ist ein Irrtum. China geht es vorrangig um die Sicherung der eigenen Einflusszonen in Afrika, in Zentralund Südostasien. Das Beispiel USA zeigt: Die Rolle des Hüters, manche sprechen auch vom Weltpolizisten, verursacht enorme Kosten. Das leitet über zum Aufstieg Trumps und zur Krise der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Es gibt eine tiefe Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung. Das gilt nicht nur für die USA, sondern auch für Nordfrankreich, Ostdeutschland sowie Ostmittel- und Osteuropa. Viele dort denken nicht in großen Räumen, sondern kleinräumig und kurzfristig mit Blick auf den nächsten Wahltermin. Ein weitsichtig denkender, global handelnder Akteur steht im Widerspruch zum Egoismus der heimischen Wähler. Die fragen: tut der Staat für mich? Dieses Sentiment hat Trump bedient. America First ist die Formel für die Verabschiedung der USA aus der Hüterrolle. Auf Dauer ist es schwierig, eine Demokratie in der Rolle eines gemeinnützigen Hüters zu halten.
Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schaut auf die Wähler daheim. Mit Blick auf die Kommunalwahlen im März und mögliche Erfolge der Rechtspopulistin Marine Le Pen hat er die Aufnahme von Eu-beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien gestoppt. Blockiert das stete Starren auf die Innenpolitik die große Eu-agenda? Demokratie und das Schielen auf Wahltermine stehen mitunter im Widerspruch zu den langen Entwicklungslinien der Politik. Eine Demokratisierung Europas wird es nicht geben, weil es auf absehbare Zeit kein europäisches Volk gibt. Mit dem Aufstieg europafeindlicher Parteien von Le Pen bis zur AFD stellt sich ein zusätzliches Problem. Die Politik der europäischen Integration war in den Mitgliedstaaten lange unumstritten. Das ist vorbei. Europa steht nicht nur in seinem Wie, sondern auch in seinem Ob zur Disposition. Macron hat in der Präsidentschaftswahl 2017 gegen Le Pen dieses Ob ins Zentrum seiner Kampagne gestellt. Er hat die Wahl klar gewonnen – als Plebiszit über Europa. Am Protest der Gelbwesten zeigt sich, dass diese Mehrheit trügerisch war, weil er innenpolitisch nicht über ein Mandat für Reformen verfügt. Deshalb betreibt der Präsident systematische Aufmerksamkeitspolitik, nicht allein mit Blick auf den Balkan, sondern auch in Bezug auf die Nato.
Im Mai hält die Nato „Defender“ab, das größte Manöver in der Geschichte der Allianz. Präsident Macron hält die Allianz für „hirntot“. Ist das Bündnis 70 Jahre nach der Gründung noch zeitgemäß? Nach dem Ende des Kalten Krieges sah alles sehr optimiswas