Nachbar in Not
Das geschockte Deutschland ringt mit seinen Rändern und gerät aus dem Lot.
Deutschland durchlebt eine düstere Zeit, vielleicht die dunkelste seit der Terrorwelle in den Siebzigern. So lange war der Nachbar ein Hort der Stabilität, des Wohlergehens und der Sicherheit gewesen, wegweisend in vielem. Jetzt wirkt das selbstgewisse Land plötzlich wie ohne inneren Kompass, erfüllt von Ohnmacht, Entsetzen und tiefer Verstörung. Der Terroranschlag eines psychisch gestörten Rechtsextremisten, der zehn Menschenleben auslöschte, hat Deutschland in eine Schockstarre versetzt. Nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten durch einen Neonazi und dem Anschlag auf eine Synagoge in Sachsen war es der dritte politisch und rassistisch motivierte Anschlag binnen kurzer Zeit: Anschläge auf das Selbstverständnis einer ganzen Nation, die viel früher und entschlossener aus dem Schatten ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit getreten war, als es hierzulande der Fall war. Das Geschehene trifft die Deutschen ins Mark. Lange waren sie es, die mit Irritation auf die politischen Verwerfungen Österreichs blickten, vor allem auf das zyklische Er
starken der FPÖ und die Einrisse in der Mitte, verkörpert durch eine ausgelaugte Große Koalition. Deutschland schien über derlei erhaben. Die Mitte glich einer Festung. Die Mitte war Merkel. Nach der Migrationskrise, die zur Krise Merkels geriet, änderte sich die Stimmung und mit ihr die politische Geometrie. Die AfD bekam viel Raum geschenkt. Sie wurde zum Profiteur von Merkels Unbeweglichkeit sowie vom Gleichklang der politischen Klasse und der konformistischen Medien, die Journalismus als Pädagogik missverstanden und die Leute mit ihrem Unbehagen alleinließen.
Die Rechten bewirtschafteten es als Monopol und mit zunehmender Radikalität. Es gibt keine direkte Kausalität zwischen Hanau und Höcke. Neonazistische Barbarei (NSU) gab es zuvor auch ohne AfD. Aber die Partei trägt Verantwortung für die Enthemmung und das HassKlima, das einem solchen Verbrechen Vorschub leistet. Die Täter dürfen sich legitimiert fühlen. Hier ist der wehrhafte Rechtsstaat gefordert, aber auch der wache Bürger, wenn er Rassismus im Alltag begegnet oder entscheiden muss, wo er sein Unbehagen bei Wahlen hinträgt. Und dann gibt es die Verantwortung der liberalen Parteien, der Erhabenen, sich diesem Unbehagen zuzuwenden und zu hinterfragen, was einer Partei wie der AfD den Zulauf beschert und was der eigene Anteil daran sein könnte. Die Ächtung muss diese Frage mit einschließen, sonst hat sie nur einen begrenzten aufklärerischen Wert und bleibt Attitüde.
Die AfD ist die rabiate, völkische Steigerungsform der FPÖ, und die Große Koalition in Berlin ist dort, wo Rot-Schwarz 2017 war, nur kaputter und verlorener und ohne die Option Kurz. Nach der SPD kommt sich jetzt auch die CDU im Ringen mit sich selbst abhanden. Thüringen wird zur Chiffre fürs Ganze: an den Rändern schrilles Gedränge und in der Mitte ein rauchender Krater. Deutschland hielt sich zugute, gegen österreichische Verhältnisse immunisiert zu sein. Jetzt hätte man sie gerne.