Kleine Zeitung Kaernten

Die Angst vor dem Regentropf­en

- Arnold Mettnitzer,

Theologe und Psychother­apeut ass zerfrisst das Herz. Hass zersetzt Beziehunge­n. Wer aber vergibt, ist Gott ähnlich. Der ägyptische Mystiker Henri Boulad ermutigt mit diesem kühnen Gedanken dazu, durch Vergeben und Verzeihen in die Rolle eines barmherzig­en Gottes zu schlüpfen. Denn dadurch wird die „Psycho-Logik der Liebe“sichtbar, die sich von Rückschläg­en nicht entmutigen und von nichts, nicht einmal vom Undank daran hindern lässt, bedingungs­los auf andere Menschen zuzugehen. Solches Vergeben ist der heilsam innerste Kern alles Lebendigen, die Seele jeder gelebten Beziehung. Deshalb gilt: Nicht Hass, nicht Rache, sondern Vergebung ist süß! Nicht Richterspr­üche, sondern Gesten der Versöhnung garantiere­n tragfähige Beziehunge­n. Angelpunkt ist das biblische Doppelgebo­t: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“Immer noch wird in der christlich­en Verkündigu­ng diese Liebe zu sich selbst als Stiefkind behandelt und die Nächstenli­ebe als Liebkind verhätsche­lt. So aber kann nicht verstanden werden, dass die entwicklun­gspsycholo­gische Voraussetz­ung für ein gelungenes Leben eine gut fundierte Liebe zu sich selbst ist; beide Gebote verweisen aufeinande­r und bedingen sich gegenseiti­g. Deshalb übersetzt

Hdie rabbinisch­e Tradition das biblische Doppelgebo­t mit: „Liebe deinen Nächsten! Er ist wie du!“Und Bernhard von Clairvaux rät seinem Schüler, Papst Eugen III, bei all seinen Verpflicht­ungen auf sich selbst nicht zu vergessen. Denn: Wer sich selbst nicht mag, kann andere nicht mögen, wer mit sich selbst nicht gut umgeht, kann es auf Dauer auch mit anderen nicht. Ein paar Jahrhunder­te später preist Paracelsus den Menschen als die beste Medizin für den Menschen und formuliert damit etwas, was die moderne Neurobiolo­gie gerade wiederentd­eckt: die Überzeugun­g nämlich, dass die größte Sehnsucht des Menschen darin besteht, einem anderen Menschen als Mensch zu begegnen. Wenn diese Sehnsucht enttäuscht wird, trifft uns das mitten ins Herz. Die Navajo-Indianer sagen bei solchen Gelegenhei­ten, jemand benehme sich wie einer, der keine Verwandten hat, und bringen damit den höchsten Grad an Abneigung diesem Menschen gegenüber zum Ausdruck. Bert Brecht hat dagegen den unübertrof­fen schönen Satz formuliert: „Der, der mich liebt, hat mir gesagt, dass er mich braucht. Darum gebe ich auf mich acht, sehe auf meinen Weg und fürchte bei jedem Regentropf­en, dass er mich erschlagen könnte.“

23. FEBRUAR 2020

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