Bestes Depesche
Der deutsche Botschafter Ralf Beste schreibt ab jetzt regelmäßig über seine Sicht auf seine neue Heimat Österreich.
Zu den spannendsten Lernerfahrungen eines Botschafters gehört der Blick aus der Ferne nach Hause. So muss sich das für einen Astronauten anfühlen, wenn er aus der Raumkapsel plötzlich den Blauen Planeten in seiner ganzen Pracht im Sonnenlicht erblickt. Ganz so weit, aber auch ganz so schön ist Deutschland natürlich nicht. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass Deutschland so viele Einwohner hat wie der Iran und die Türkei, jedoch nur ein Viertel der Bevölkerung der USA.
Unsere Wirtschaftskraft ist etwa so groß wie die von Spanien und Frankreich zusammen, unser Nettobeitrag zum EUHaushalt ist doppelt so groß wie derjenige der „Sparsamen Vier“zusammen. Warum ich das alles weiß? Gute Frage.
Nicht alle diese Informationen, die ich mir ergoogelt habe, sind wirklich nützlich. Aber wenn man als Deutscher nach Österreich kommt, lernt man unweigerlich das Vergleichen. Denn das tun die Österreicher, so mein Eindruck, gerne. Die wichtigste Faustregel für den Vergleich, die ich hier gelernt habe, ist der Faktor zehn. Deutschland hat zehnmal so viele Einwohner wie Österreich, ein zehnmal so hohes Bruttoinlandsprodukt (eigentlich wäre Faktor neun wohl passender, aber ich will nicht pedantisch wirken).
Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht einen Vergleich mit dem Faktor zehn lese oder höre. Die Auflage der Zeitung? Der Umfang des Corona-Rettungspakets? Die Zahl der Todesopfer? Mal zehn, dann sieht man, ob man besser oder schlechter dasteht als in Deutschland.
Ich habe nach ähnlichen Faustregeln für Deutschland recherchiert wie oben beschrieben. Und ich habe viele deutsche Freunde gefragt, ob sie das wussten oder wir das auch machen. Um es kurz zu machen: Ich bin nicht fündig geworden. Die Deutschen sind, wenn es ums Vergleichen geht, ein bisschen faul.
Ist das gut oder schlecht? Natürlich könnte man den Österreichern vorwerfen, dass sie sich ständig am „großen Nachbarn“messen. Leider könnte man den Spieß aber auch nur zu leicht umdrehen: Zwar sagen wir nicht mehr leichtfertig „Deutschland über alles“. Aber dass wir nicht einmal wissen, wie und mit wem wir uns vergleichen könnten, offenbart doch eine recht selbstgenügsame Weltsicht.
Für die Österreicher scheint der Vergleich mit Deutschland dagegen eine Selbstverständlichkeit. Er dient nicht unbedingt dem Wettbewerb, sondern der Orientierung. Vielleicht sollten wir Deutsche die Faustregel importieren. Mir jedenfalls nützt sie.