Das nahöstliche Staatsversagen
Niemand kann den Libanesen verdenken, dass sie keine Lust mehr haben, in ihrem Land zu leben.
Seit der tragischen Selbstzerstörung der halben Hauptstadt ahnt jetzt auch der Letzte, dass die nationale Krise heillos ist und Libanon auf dem Kurs, sich zu einem gescheiterten Staat zu entwickeln. In der arabischen Welt ist der Zedernstaat damit ein besonders spektakulärer Fall, beileibe jedoch kein Einzelfall. Und so ist der orangerote Feuerball über Beirut auch eine Bankrotterklärung für das gesamte nahöstliche Staatsverständnis.
Den politischen Eliten fehlen gesellschaftlicher Gestaltungswille und jedes Bewusstsein für das öffentliche Wohl. Die Mehrheit der 400 Millionen Bewohner leidet seit Jahrzehnten unter chronischem Staatsversagen, egal ob im Libanon, in Syrien, im Iran, Irak, in Jemen, Ägypten, Libyen oder Algerien. Entweder die Herrscher unterdrücken ihre Völker, zerfleischen sich in Bürgerkriegen oder lassen ihre Landsleute links liegen. In keiner Region der Welt existieren größere Gegensätze zwischen Arm und Reich. In kaum einer Nation des Nahen Ostens gibt es einen ordentlich funktionierenden öffentlichen Sektor, angefangen von der Versorgung mit Strom und Trinkwasser über staatliche Schulen und Krankenhäuser bis hin zu Müllabfuhr und Kanalisation. Politische Ämter werden vor allem verstanden als Instrumente zur privaten Bereicherung und Plünderung der öffentlichen Ressourcen.
Aus diesem Grund ist der Libanon heute die am höchsten verschuldete Nation des Globus. Dieser Negativrekord wurde von seiner herrschenden Klasse in organisierter Verantwortungslosigkeit immer weiter ausgereizt, um sich in einem unvorstellbaren Maße zu bereichern. Von den Privatkonten der Bürger dagegen sind mindestens 80 Milliarden Dollar verschwunden, die jetzt händeringend für die Reparatur der Gebäude, Geschäfte und Wohnungen gebraucht würden. Stattdessen wanderten diese Unsummen über Jahre als kriminelle Superzinsen für toxische Staatsanleihen in die Taschen von korrupten Politikern, Ex-Warlords und Oligarchen.
Seit zehn Jahren kocht in der arabischen Welt wegen solcher Missstände der Volkszorn hoch, wie auch jetzt wieder in Beirut. Doch aus Empörung und Ärger über Inkompetenz, Vetternwirtschaft und Staatsversagen entsteht nicht automatisch ein funktionierendes Gemeinwesen. Die erste Welle des sogenannten Arabischen Frühlings richtete sich vor allem gegen die Diktatoren an der Spitze. Hinterlassen hat sie drei Bürgerkriege in Syrien, Jemen und Libyen, eine Hyperdiktatur in Ägypten und mit Tunesien einen einzigen Überlebenden, der nur noch am Tropf Europas und internationaler Geldgeber über die Runden kommt.
Die zweite Welle von Massendemonstrationen im Libanon, Irak, Sudan und in Algerien zielte dann vor allem auf das System der Regierungsführung, konnte aber ebenfalls nicht ernsthaft an den mafiösen Strukturen rütteln. Die Menschen haben alles versucht – von dauerfriedlichen Protesten bis zu offener Waffengewalt. Nirgendwo hatten sie Erfolg. Nirgendwo ist es ihnen gelungen, die bisherigen Eliten zu entmachten und ihre Staaten auf ein neues Fundament zu stellen. Kein Wunder, dass gerade unter den Jüngeren viele nur noch eins im Sinn haben – weg aus diesem Nahen Osten.