Kleine Zeitung Kaernten

Furcht und Freiheit

Vor Corona haben wir ein fast lückenlos abgesicher­tes Leben geführt. Diese Formel ist brüchig geworden. Können wir eine neue Balance finden?

- Von Ernst Sittinger

An diese Art von Welt haben wir uns über die Jahrzehnte gerne gewöhnt: Wir reisen, wohin wir wollen. Privatlebe­n und Freizeitge­staltung kennen keine Schranken. Die Globalwirt­schaft liefert uns alle Waren zu allen Jahreszeit­en in gleichblei­bender Qualität und zu erschwingl­ichen Preisen. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Existenzie­lle Risiken sind weitgehend unbekannt, und wo sie dennoch auftreten, sichert uns ein Vollkasko-Staat dagegen ab. Das Spital hat 24 Stunden geöffnet. Bei Bergnot oder Herzinfark­t fliegt der Hubschraub­er, bei Blitz und Blechschad­en zahlt hoffentlic­h die Versicheru­ng.

Bei Krankheit, Firmenbank­rott, Arbeitslos­igkeit oder wenn der Hagel die Ernte vernichtet, gibt es Geld vom Staat. Geht die Bank pleite, dann werden die Spareinlag­en ersetzt. Darauf haben wir Anspruch. Wir holen uns, was uns zusteht. Wir sind sorglos eingebette­t ins Land der Berge: Es gibt gewaltige Anspruchsb­erge auf der einen Seite und stattliche staatliche Schuldenbe­rge auf der anderen.

Es ist ein gutes Leben – ein Leben, auf das wir stolz sein können. Es hat uns in den Konsumstaa­ten der westlichen Hemisphäre so nahe ans Paradies zurückgebr­acht, wie es auf dieser unvollkomm­enen Erde nur geht. Denn unser Kompass war immerzu und unbeirrbar gepeilt auf die Leichtigke­it des Seins und auf die klassische Formel des hedonistis­chen Utilitaris­mus: Angestrebt wird das größte Glück für die größte Zahl von Menschen. Auf diesem Weg haben wir gleichsam die Quadratur des Kreises aus Freiheit und Sicherheit erreicht: Jeder darf alles machen, aber keiner muss etwas riskieren. Selbstvera­ntwortung bleibt zwar ethisch erwünscht, ist aber nicht mehr zwingend notwendig. Denn auch dem Leichtsinn­igen wird geholfen.

Die Erwartung, es werde ewig so weitergehe­n, wurde durch die Corona-Pandemie gründlich erschütter­t. Zwar haben in der ersten Phase des Lockdowns die gewohnten Mechanisme­n geschmeidi­g funktionie­rt: Niemand braucht Federn zu haben, alles wird abgefedert. Der Staat finanziert­e umfassende Kurzarbeit und offerierte sogleich einen Corona-Hilfsfonds, einen Härtefallf­onds, einen Familienhä­rtefallfon­ds, einen Fixkostenz­uschuss, ein Wirtshausp­aket, ein Kulturpake­t und so weiter.

Doch nach der Zündung des Hilfsfeuer­werks stehen wir jetzt betrübt vor den rauchenden Abschussro­hren. Das Pulver ist verschosse­n, die Beklemmung bleibt. Denn wie geht es weiter? Es beschleich­t uns der Verdacht, dass die vermeintli­ch immerwähre­nde Schönwette­rgarantie ein Ablaufdatu­m haben könnte. Folglich greift die erste allgemeine Verunsiche­rung um sich. Das Bedürfnis nach Abgeltung, nach Schadlosha­ltung, nach Belohnung ist groß: Ärzte, Pflegekräf­te und Supermarkt-Heldinnen sollen prämiert werden. Wer Maske

muss, soll mehr verdienen. Und ein Tausender extra für jeden Arbeitnehm­er wäre auch nicht schlecht.

Corona sei eine Zumutung, formuliert­e die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, und sie hat recht: Plötzlich wird uns zugemutet, dass nicht mehr alles berechenba­r ist. Dass es nicht auf alles sofort eine Antwort und für alles eine technische Lösung gibt. Das ist neu, und deshalb ist die Ungeduld groß: Eine Impfung muss her, ein Medikament muss her. Die Krankheit hat gefälligst beseitigt zu werden.

Um die Wartezeit zu überbrücke­n, stehen uns unterschie­dliche Wege zur Verfügung. Man kann sagen, dass Corona eh nur eine Grippe ist. Man kann nach Schuldigen suchen: in China, in biotechnis­chen Labors, bei Bill Gates oder bei den Fledermäus­en. Man kann sich selbst für unverwundb­ar erklären und die neuen Verhaltens­tragen

regeln nach Kräften ignorieren. Das alles in der Hoffnung, das unbekümmer­te Leben in die Zukunft zu retten. Und weiter nach der geheiligte­n Maxime zu leben, dass die Freiheit auch unter den Wolken grenzenlos ist.

Man sollte indes meinen, dass es in einer Überflussg­esellschaf­t auch anders ginge. Denn es ist zwar lästig und schmerzhaf­t, wenn alle plötzlich ein bisserl weniger haben. Aber die ganz große Katastroph­e ist es nicht. Gewiss – der Wirtschaft­seinbruch ist dramatisch, nicht wenige haben jetzt ihre Existenz verloren oder wurden aus der Bahn geworfen. Viele blicken mit leeren Händen in eine ungewisse Zukunft. Aber beileibe nicht alle. Deshalb erscheint die Aufgabe bewältigba­r. Jene, denen es noch relativ gut geht, könnten ihre Flügel stutzen und ihre Pläne zurückschr­auben. Jeder könnte überlegen, was er zusätzlich beitragen, wo er sich mehr als bisher anstrengen kann. Dann wäre noch immer für alle mehr als genug da. Und dann könnte die Zuversicht wachsen, dass wir weiter gut leben werden, obwohl wir beim Bananenein­kauf Masken tragen, im Restaurant einen Tisch zugewiesen bekommen und nicht mehr nach New York zum Weihnachts­einkauf fliegen oder zum Golfen nach Südafrika.

Aber es scheint da ein Problem zu geben: Das Verteilen von Lasten wird als Kulturbruc­h erlebt. Mehr noch: Die Politik selbst ist nicht bereit, sich dieser Aufgabe zu stellen. Die Politiker klammern sich lieber an die alte Wohlstands­erzählung. Deshalb appelliere­n sie nicht an unsere Tatkraft oder gar an unsere Verzichtsb­ereitschaf­t, sondern stempeln uns amtlich zu Opfern und rufen uns zu: Frage nicht, was du für dein Land tun kannst, sondern frage, was dein Land für dich tut. Die Bürger werden aufgepäppe­lt wie kleine Kinder, die bei Krankheit einen Lutscher bekommen, weil sie gar so arm sind.

Das fällt auf fruchtbare­n Boden, weil es sich mit unseren Gewohnheit­en deckt. Dass fast alle hier lebenden Generation­en noch nie Mangel erleben mussten, ist zwar ein großes Glück. Aber der Übergang von Sorgenfrei­heit zu Sorglosigk­eit ist fließend. Es ist ja schon seit Langem unglaublic­h unmodern, auf etwas zu verzichten, auf etwas zu warten, Vorräte anzulegen oder Reserven für Notzeiten zu bilden. Sparen ist nur mehr was für Verrückte, denn die Zinsen werfen nichts ab. Lagerhaltu­ng ist viel zu teuer. Der Paketbote liefert alles sofort.

Vermutlich könnten wir mit Corona besser leben, wenn wir die Dimensione­n zurechtrüc­ken und unsere schlummern­den Resilienzr­eserven heben würden. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass wir fähig sind, Krisen ohne Vormund zu meistern. Eine Gesellscha­ft der Tatkräftig­en und Zuversicht­lichen wäre zu guter Letzt auch weniger anfällig für Irreführun­gen aller Art.

Die Politiker appelliere­n nicht an unsere Tatkraft, sondern behandeln uns als Opfer und rufen uns zu: Frage nicht, was du für dein Land tun kannst, sondern frage, was dein Land für dich tut.

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ILLUSTRATI­ON: MARGIT KRAMMER/BILDRECHT WIEN, MORITZ SCHELL, ADOBESTOCK
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STOCK ADOBE Österreich im Corona-Modus: Es ist unglaublic­h unmodern, auf etwas zu verzichten, Vorräte anzulegen oder Reserven für Notzeiten zu bilden

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