Erdog˘ an und das Gespenst der Kreuzzüge
ANALYSE. Atmosphärisch ist die Beziehung zwischen Paris und Ankara seit vielen Jahren gestört. Frankreich hat sich zum größten Kontrahenten von Präsident Erdog˘ an in der EU entwickelt. Dennoch ist der scharfe Ton vor allem innenpolitisch motiviert.
Nach dem mörderischen Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“2015 schickte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdog˘an seinen Premier Ahmet Davutog˘lu zum Trauermarsch nach Paris. Schon damals war die türkische Haltung ambivalent. Bis in höchste Reihen der regierenden AKP hinein gab es Stimmen, die den Opfern selbst die Schuld an ihrer Ermordung zuschoben. Wütende Islamisten zogen durch Istanbul und versuchten, den Sitz der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“zu stürmen. Mutige Kolumnisten hatten einige der Mohammed-Karikaturen aus „Charlie Hebdo“abgedruckt, die auch im aktuellen Konflikt zwischen beiden Ländern wieder eine zentrale Rolle spielen.
Diesmal hielt sich Erdog˘an nicht mit Beileidsbekundungen für den bestialisch ermordeten Lehrer Samuel Paty auf, der Mohammed-Karikaturen für den Unterricht über Meinungsfreiheit verwendet hatte. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf den Mord mit einer Kampfansage an den politieine schen Islamismus in Frankreich reagierte, extremistische Gruppen durchsuchen und Hassprediger festnehmen ließ, feuerte Erdog˘an verbale Salven gegen die französische Regierung ab. Er warf Paris einen „Großangriff“auf den Islam, Rassismus und Islamophobie vor und rief zum Boykott französischer Waren auf: „Füllt nicht die Taschen der Feinde des Islam!“Macron nannte er zwei Mal „geisteskrank“, weil dieser erklärt hatte, dass der „Islam weltweit in der Krise“sei. Daraufhin zog die Regierung ihren Botschafter aus Ankara ab und verschärfte ihre Reisewarnung für die Türkei. Erdog˘an warf daraufhin bestimmten Ländern eine „Neuauflage D der Kreuzzüge“vor. ie Schärfe der Auseinandersetzung ist vor allem Erdog˘ans innenpolitischen Problemen geschuldet. Die Wirtschaft geht durch eine tiefe Krise, die Corona-Epidemie läuft aus dem Ruder, die Lira stürzt ab, und der Devisenbringer Tourismus fällt wegen der Pandemie aus. Diese prekäre Lage ist Hauptgrund für den außenpolitischen Eskalations
Freiheit, wir schätzen sie; Gleichheit, wir garantieren sie; Brüderlichkeit, wir leben sie mit Intensität. Nichts wird uns jemals zum Rückzug zwingen. Emmanuel Macron, Präsident
kurs, Erdog˘ans immer schrillere antiwestliche Sprache und die Dämonisierung Frankreichs. Erdog˘an braucht ständig neue Konflikte, um die Öffentlichkeit mit Aufregerthemen von seinem Versagen in der Wirtschafts- und Coronapolitik abzulenken. Macrons Vorgehen gegen Islamisten kommt ihm dabei wie gerufen.
Ohnehin sitzt der Ärger über Paris tief in der Türkei. Nichts hat sich mehr in die Erinnerung der Türken gefressen als die offene Ablehnung, mit der Präsident Nicolas Sarkozy den geplanten EU-Beitritt der Türkei gemeinsam mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in
nur taktisch, sondern genuin und dessen Rückgrat nicht NeoOsmanismus ist, sondern die „islamische Bruderschaft“, der „antiimperialistische“und „antiwestliche“Impuls, der so offen wie nie zuvor zutage tritt. Erdog˘an hofft, sich mit seiner Kampagne als „Anführer der muslimischen Welt“zu inszenieren – um mit diesem Imagegewinn wieder zu Hause Punkte machen zu können.
Deshalb droht der Autokrat den Europäern mit der türkischen Diaspora, heizt wissentlich die tödliche islamistische Gewalt an und provoziert Gegengewalt rechtsextremer Fanatiker. In Wahrheit hat es Erdog˘an nie geschafft, sich von muslimischen Hardlinern zu distanzieren, eine Tatsache, über die die EU bisher aus flüchtlings- und geopolitischen Gründen hinweggesehen hat. Immerhin hat sich die deutsche Regierung, die treibende Kraft hinter der EU-AppeasementPolitik, klar an Macrons Seite gestellt und erstmals Erdog˘ans Verbindung mit der vom Verfassungsschutz beobachteten Islamistenorganisation Milli
Görüs offen dargelegt. Das ist nichts weniger als eine politische Sensation und zeigt die Verärgerung, die sich auch in W Berlin angestaut haben muss. enn die Europäer nun genauer hinschauen, werden sie entdecken, dass Erdog˘an längst zum massivsten Förderer islamistischer Umtriebe im europäischen Nachbarschaftsraum geworden ist. Es ist Erdog˘an, der die Mittelmeerund Schwarzmeerregion in Unruhe stürzt. Er ist es, der die Versprengten des „Islamischen Staats“in seinen syrischen Protektoraten umhegt, der dschihadistische Söldner nach Libyen und in den Kaukasus exportiert. Längst hat sich Erdog˘an weltweit als Pate der Muslimbrüder und anderer Extremisten etabliert. „Macron wird einen hohen Preis bezahlen!“, brüllten Demonstranten, die in Istanbul gegen neue Karikaturen protestierten. Frankreich will nun die EU-Regierungen auffordern, auf ihrem nächsten Treffen Maßnahmen zu ergreifen, um „die europäischen Interessen und Werte besser zu verteidigen“.