Martina Leibovici-Mühlberger über Kinder in der Krise.
Essstörungen, zwanghaftes Händewaschen, stundenlanges Computerspielen: was Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger Eltern rät.
1 Ich befürchte, dass meine Tochter eine Essstörung entwickelt. Wie kann ich meinem Kind helfen?
ANTWORT: Zuerst einmal sollten Sie das Gespräch mit Ihrer Tochter suchen, versuchen herauszufinden, warum sie in eine Essstörung gekippt ist, was die Ursachen sind. Oft steckt Stress dahinter. In manchen Fällen lässt sich das Problem allein durch das Ansprechen in der Familie lösen. Funktioniert das aber nicht, braucht sie unbedingt professionelle Hilfe, vor allem wenn Ihre Tochter auch auffällig an Gewicht verliert.
2 Mein Sohn (13) schleichtsichheimlich aus dem Haus, um seine Freunde zu treffen.
Was soll ich tun?
ANTWORT: Ich habe gemeinsam mit den Jugendforschern Klaus Hurrelmann, Simon Schnetzer und mit Heinz Herczeg eine Studie zu Kindern und Jugendlichen in der Krise gemacht, die zeigt, dass sich die jungen Menschen nur zu einem sehr geringen Teil selbst gefährdet sehen, an Corona zu erkranken. Wobei für die große Mehrheit wichtig ist, sich rücksichtsvoll zu verhalten, um Freunde und Familie nicht zu gefährden. Etwa zwei Drittel der Befragten haben angegeben, sich an die Coronaregeln zu halten und auf Parties zu verzichten. Trauen Sie dem Kind Eigenverantwortung zu. Sprechen Sie mit Ihrem Kind, vermitteln Sie ihm, dass es in Ordnung ist, einen Freund im Freien zu treffen. Das ist wichtig für Kinder, es gibt ihnen Motivation und Kraft, so viel sollten wir ihnen zugestehen.
3 Mein 13-jähriger Sohn will nicht mehr aus dem Haus gehen und
isoliert sich zunehmend von seinen Freunden.
ANTWORT: Hier ist es wichtig, mit dem jungen Mann zu reden. Wieso interessiert dich das nicht? Hat er Angst, traut er sich nicht aus dem Haus? Dann sollte man versuchen, ein Design für ihn zu stricken, damit er vielleicht doch einmal einen Freund trifft und sich austauscht. Für die Jüngeren ist es enorm wichtig, dass sie in Bewegung bleiben. Eltern sollten mit ihren Kleinen auf den Spielplatz gehen, andere Kinder zu treffen ist wichtig, sonst entstehen große soziale Defizite.
4 Mein Kind kommt einfach nicht vom Bildschirm weg.
ANTWORT: Viele junge Menschen haben sich in den letzten Monaten in die virtuelle Welt zurückgezogen. Das reine Verbot greift nicht mehr so leicht. Es ist wichtig, dem Kind klarzumachen, dass man als Elternteil Verantwortung trägt, und ihm sagt: Ich kann dich nicht vor dem Computer versumpern lassen.
5 Unser Sohn (7) macht sich vermehrt Gedanken über die Händehygiene. Wie sollen wir damit umgehen?
ANTWORT: Das ist ein junger Mann, der nachzudenken beginnt. Kinder sind stark von der Umgebungsstimmung abhängig. Vermitteln Sie Ihrem Sohn, dass er zu Hause sicher ist, dass ihm dort nichts passiert. Es ist wichtig, dass Erwachsene Sicherheit ausstrahlen, denn gerade junge Kinder orientieren sich sehr stark an ihrer Umgebung.
6 Was kann ich als Oma oderOpatun,umauch jetzt für mein Enkelkind da zu sein?
ANTWORT: Auch die Großeltern stehen unter Druck. Wichtig ist, dass Großeltern im Kontakt bleiben, online oder über das Telefon, dass sie regelmäßig beim Enkelkind nachfragen, wie der Lebensalltag aussieht, und auch vom eigenen Alltag erzählen, auch die ganz banalen Dinge, vom Tortebacken zum Beispiel. Die Kinder sollen ein Bild davon bekommen, wie die Oma oder der Opa gerade die Zeit verbringt. Dadurch entstehen nicht so viele Lücken.
7 Jede Krise beinhaltet auch eine Chance. Welche Chancen gibt es für Kinder, Familien, aber auch für Pädagogen?
ANTWORT: Wenn wir das Positive sehen wollen, dann müssen wir etwas tun. Wir könnten jetzt erkennen, dass Schule nicht nur Akademisierungsanstalt ist. Kindergarten und die Schule sind die große psychosoziale Drehscheibe unserer Kinder, dort lernen sie, Gesellschaft zu werden. Das Soziale ist so wesentlich, die Schule ist dafür die Bühne und die Plattform. Hier müssen wir dringend investieren. Wir müssen die Pädagogen als Bezugspersonen unserer Kinder erkennen, sie unterstützen. Wir müssen aus dieser Krise heraus die Bereitschaft entwickeln, hier zu investieren. Denn momentan sehen wir vor allem eines: Die Eltern, Pädagogen und die Kinder werden in dieser Krise im Stich gelassen.