Die italienische Misere
Schon lange vor der Pandemie sind Regierungskrisen in Italien zum festen Bestandteil der politischen Machtausübung geworden. Corona spiegelt diesen Missstand nur wider.
In Rom wird weiter um eine Neuauflage der Regierungskoalition gerungen. Dass Giuseppe Conte ein drittes Mal Ministerpräsident wird, ist immer unwahrscheinlicher. Denn die Fünf Sterne und der sozialdemokratische Partito Democratico überwanden im August 2019 ja nicht ihre gegenseitige tiefe Abneigung, um den Professor aus Apulien an die Macht zu heben, sondern um den gierig danach greifenden Matteo Salvini und seine rechtsnationalistische Lega davon fernzuhalten.
Dieser Logik folgend könnte sich Contes spektakuläre Demission bald als der unbedeutendste Zug im römischen Ränkespiel entpuppen. Alle Partner in diesem Notbündnis hätten bei einer Neuwahl mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Also wird man sich wohl oder übel zusammenraufen und mit einem neuen Premier weitermachen.
Aus europäischer Sicht mögen die Kabale am Tiber, wenn nicht als verrückt, so doch als höchst fahrlässig erscheinen. Europa wird von der zweiten Welle der Coronapandemie überrollt, und ausgerechnet das besonders vulnerable Italien zelebriert wieder einmal leiden
stefan.winkler@kleinezeitung.at
schaftlich seine politischen Animositäten. Tatsächlich sind Regierungswechsel in Rom eher die Regel als die Ausnahme. Das hat mit der historischen Erfahrung des Faschismus zu tun. In nie da gewesener Form konzentrierte der Duce Mussolini die Macht in seiner Person. Um das für alle Zukunft zu verhindern, legten die Väter der Verfassung des demokratischen Italien fest, dass Regierungen in beiden Kammern des Parlaments über die Mehrheit verfügen müssen.
Das führte schon in den Jahrzehnten der Alleinherrschaft der Democrazia Cristiana zu einer sehr speziellen Form der Machtausübung, die durch Politschacherei, schamloses Klientelwesen und eine hohe Fluktuation von Kabinetten gekennzeichnet war. Doch nach dem Zusammenbruch des alten Parteiensystems Anfang der 1990er-Jahre und der Fragmentierung der Parteienlandschaft wurde es vor allem für die bunt zusammengewürfelten Koalitionen des linken Spektrums fast unmöglich, der zwanzigjährigen Politshow des Medienzaren Silvio Berlusconi die Stirn zu bieten, geschweige denn beherzte Reformpolitik zu betreiben.
Die Regierungskrise wurde zum Dauerzustand und irgendwann schließlich zum Herrschaftsinstrument, das dazu dient, die sich hinter ständig neu formierenden Allianzen verbergenden verknöcherten politischen Eliten an den Spitzen des immer dysfunktionaleren Staates einzuzementieren.
Das Virus hat diese Entwicklung akzentuiert, nicht nur weil es ein energisches Krisenmanagement der Regierung erforderte, sondern auch weil Conte an der Macht Gefallen fand. ber wie kann es bei allen Meriten sein, dass ein wie das Kaninchen aus dem Hut gezogener, durch keine Wahl legitimierter Parteiloser seit zweieinhalb Jahren Ministerpräsident der achtgrößten Wirtschaftsnation der Welt ist?
Diese Frage mag in der Pandemie nicht wirklich opportun sein. Aber sie illustriert Italiens demokratiepolitische Misere.
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