„Der Zerfall der Union wurde wahrscheinlicher“
Schottlands Nationalisten wollen Unabhängigkeitsreferendum, Nordirland zielt auf Einheit mit der Republik Irland: Politologe Griffiths über ein zerbröckelndes Königreich.
Mr. drängen Griffiths, in die Richtung Schotten eines neuen Unabhängigkeitsreferendums, laut Umfragen wächst der Wunsch nach einem vereinten Irland – und sogar in Wales zeigen sich Sezessions-Tendenzen: Wie kritisch würden Sie als Kenner der britischen Innenpolitik den Zustand des Vereinigten Königreichs einschätzen?
SIMON GRIFFITHS: Der offensichtlichste Knackpunkt ist Schottland: Die National Party NPS dominiert das schottische Parlament. Sollte die Fraktion nach der Parlamentswahl im Mai die Mehrheit haben, hat Nicola Sturgeon (NPS-Parteivorsitzende und „First Minister“, Anmerkung) bereits vor einiger Zeit angekündigt, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten. Das will wiederum der britische Premierminister Boris Johnson boykottieren – die Basis für ein brandgefährliches Patt, wie wir es auch in Katalonien gesehen haben.
Wie steht es um Nordirland?
Der Brexit-Deal schafft de facto eine Handelssperre zwischen Nordirland und Festland-Großbritannien. Das wird dazu führen, dass sich die nordirische Wirtschaft mit jener der Republik Irland an einer Linie ausrichten wird. Die aktuelle Situation führt aber zweifellos zu schweren Spannungen in den historisch geteilten Gebieten.
Warum sind die Menschen derart frustriert angesichts der Politik, die vom britischen Parlament in Westminster ausgeht?
Bruchlinien waren in Nordirland im Grunde immer da: Die katholische Minderheit stand stets für ein vereintes Irland, während die protestantische Mehrheit traditionell die Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich unterstützte. Das Friedensabkommen von 1998, das 30 Jahren des Blutvergießens ein Ende setzte, war einfacher, weil sowohl Nordirland als auch Großbritannien Teil der Europäischen Union waren – der Rahmen, um letztlich über Frieden zu diskutieren. Der Nationalismus wurde über Jahrzehnte stärker und stärker, und die schottische Politik entfernte sich immer mehr von jener der jeweiligen Regierung in London. Dass man in den 1990erJahren ein schottisches Parlament einführte, brachte zusätzliche Divergenzen zwischen Edinburgh und London. Und: Die Schotten wollten den Brexit – im Unterschied zu England – mehrheitlich nicht. All das befeuert das Unabhängigkeitsstreben der schottischen Nationalisten noch weiter.
Wie groß war und ist der Effekt des sich über mehrere Jahre ziehenden Brexits auf das stetig bröckelnde Vereinigte Königreich?
Zweifellos hinterließ der Brexit tiefe Gräben und ließ auch den Zerfall des Königreichs wahrscheinlicher werden. Zumindest in England ist, egal wie man gewählt hat, das vorherrschende Gefühl, dass man genug von den Jahren der Unsicherheit hat. Klar ist den Menschen aber auch, dass sie nun mit den Konsequenzen des Austritts aus der Europäischen Union werden leben müssen.
Wie groß ist der Effekt der offensichtlich verfehlten CoronaPolitik in Großbritannien auf den allgemeinen politischen Frust?
Die britische Regierung geriet