Kleine Zeitung Kaernten

Viele Russen seien putinmüde, sagt Nina Chruschtsc­howa.

INTERVIEW. Alexei Nawalny, im August mit Nowitschok vergiftet, hat durch seine Rückkehr Wladimir Putin gewaltig herausgefo­rdert. Kann er der Macht des Kreml-Chefs gefährlich werden? Nina Chruschtsc­howa, Enkelin des einstigen Sowjet-Führers, über die Chanc

- Nina Koren

Sie haben heute wieder einen Protesttag in Moskau vor sich, auch vorigen Samstag standen Sie mit Tausenden Unzufriede­nen auf dem PuschkinPl­atz, um für die Freilassun­g Nawalnys zu demonstrie­ren. Es gab viele Festnahmen. Fürchten Sie sich, dass Ihnen etwas geschieht?

NINA CHRUSCHTSC­HOWA: Keine Minute. Ich bin nicht mehr jung und ich stelle mich nicht mitten in die Menge und werfe Schneebäll­e auf die Polizei. Es ist eine falsche Annahme, dass die Sicherheit­skräfte angreifen, wenn man einfach nur dort steht. Ich gehe seit drei Jahren regelmäßig zu den Protesten.

Was ist Ihr Anliegen?

Ich will meine Meinung ausdrücken und ein Zeichen setzen. Aber ich lasse mich nicht auf Kämpfe ein. Die Polizei in Russland war bei den Protesten nicht gewalttäti­ger als die Sicherheit­skräfte in anderen Ländern. An manchen Stellen haben die Polizisten sogar ihren Kaffee mit den Demonstran­ten geteilt. Allerdings wurden diesmal ganz gezielt Internet und soziale Medien blockiert, wo sich die Demonstran­ten organisier­en – wie es China in Hongkong oder Lukaschenk­o in Minsk tut.

Politanaly­stin, geboren am 1. August 1964 in Moskau. Studierte in Moskau an der Lomonossow-Universitä­t und in Princeton. Senior Fellow des World Policy Institute. Zahlreiche Veröffentl­ichungen, darunter: The lost Khrushchev : a journey into the gulag of the Russian mind (2014).

Es sieht so aus, als sei durch die Vergiftung Nawalnys und seine Rückkehr in der starren russischen Politik etwas in Bewegung geraten. Sehen wir den Beginn eines „Russischen Frühlings“?

Die Proteste vorige Woche, zu denen Nawalny aufgerufen hatte, waren stark, aber es gab 2012 viel größere, ohne dass sich etwas geändert hätte. Russland ist ein riesiges Land; es ist nicht Prag mit seinem Frühling, wo alles an einem Platz und relativ rasch geschieht. Ein Frühling über elf Zeitzonen kann länger dauern. Trotzdem gibt es einiges, was bei den Protesten jetzt neu ist. Erstmals sind in ganz Russland Menschen zusammenge­kommen, um nicht, wie sonst, hier gegen ein Umweltprob­lem und dort gegen die Inhaftieru­ng eines lokalen Journalist­en zu protestier­en. Sie standen da mit der gleichen Botschaft: „Lasst Nawalny frei!“, und: „Wir haben genug –

Zeit ist vorbei.“Diese landesweit­e Einigkeit ist neu. Verändert hat sich auch die Haltung der Staatsmach­t: Anders als früher wird derzeit jeder, der für Nawalny Partei ergreift, als Feind betrachtet. Wer zu den Protesten geht, ist nicht einfach Anhänger der Opposition, sondern ein potenziell­er Verräter. Und das dritte Element, das neu ist, ist eines, das darauf hindeutet, dass diese Proteste so schnell nicht aufhören werden: Zum ersten Mal seit 20 Jahren gibt es mit Nawalny wirklich einen Anführer der Opposition.

Doch er sitzt im Gefängnis und weiß nicht, ob er dort jemals wieder herauskomm­en wird.

Seine Rückkehr und die Proteste haben eines bereits erreicht: Nawalny ist von einem regionalen, nur mäßig populären Opposition­ellen zu einer weltweit bekannten Figur geworden. Was seinen internatio­nalen Status betrifft, hat er mit Putin gleichgezo­gen: Er spricht mit Staats- und Regierungs­chefs – wahrschein­lich öfter, als es Putin derzeit tut; und diese hören mehr auf Nawalny als auf Putin. Es ist etwas passiert, das in Russland oft geschieht: Der Staat versucht etwas zu verhindern und muss letztlich ärgerlich zur Kenntnis nehmen, dass das Gegenteil eintritt. Wer immer den Giftanschl­ag in Auftrag gab – und ich glaube nicht, dass es Putin war, sondern jemand von den Sicherheit­skräften, der dachte, es wäre gut, Nawalny loszuwerde­n –, erlebt nun genau das: Zuerst versuchen sie, ihn kleinzured­en, dann zu vergiften, dann festzunehm­en und in einem Schnellver­fahren auf der Polizeista­tion zu verurteile­n – doch jeder dieser Schritte hat Nawalny als Politiker nur weiter aufgewerte­t. Sie haben ihn zum Helden und Märtyrer gemacht, dem die Leute zuhöPutins

Die Rechtsbrüc­he des Staates aber haben eine Grenze überschrit­ten und viele empört.

Es gibt einige Liberale, die Nawalny misstrauen und ihm Nähe zu Rechtsextr­emen vorwerfen. Ein russischer „Vaclav Havel“ist er wohl eher nicht.

Ja, es stimmt, dass Nawalny in Verbindung zu den russischen Nationalis­ten und „Russland zuerst“-Gruppen stand. Aber das ist lange her. Er hat seit mindestens zehn Jahren keine Themen dieser Art vorgebrach­t. Daher nehme ich an, er hat sich davon verabschie­det. Nein, er ist kein Havel, kein Intellektu­eller und kein Liberaler im klassische­n Sinn. Aber Russland ist auch nicht die Tschechosl­owakei von 1968. Auch Nawalny tritt für ein starkes Russland und einen starken Staat ein, für ein Russland, das ein Partner des Westens sein kann, aber sicher nicht dessen Lakai – und das ist

der Charakterz­üge, die seine Anhänger an ihm schätzen. In den USA besteht immer noch die Haltung: Entweder du folgst uns und bist auf unserer Seite, oder du bist ein Feind. Russland wird niemals den USA folgen, ganz egal, wer Präsident im Kreml ist. Washington sollte das einsehen.

Hat Nawalny das Potenzial, Putins Macht zu gefährden? In einigen Klassenzim­mern tauschen die Schüler bereits die Bilder aus.

Manche Leute rufen ihn tatsächlic­h schon zum nächsten Präsidente­n aus. Ich glaube aber nicht, dass er die geringste Chance hat, es zu werden.

Dennoch scheint jetzt, nach Jahren politische­r Apathie, ein Wunsch nach Wandel da zu sein, zumindest bei den Jüngeren.

Es ist eine deutliche Putin-Müdigkeit zu beobachten, und ein enormer Wunsch nach Veränren. derung. 20 Jahre: Putin ist jetzt länger an der Macht als Breschnew, in dessen Amtszeit ich damals aufgewachs­en bin – und schon damals erschien das wie eine Ewigkeit. Auch mit Putin haben viele das Gefühl, er bleibt für immer. Aber ich glaube nicht, dass die Straßenpro­teste einen Wechsel bringen werden.

Manche bezweifeln, dass er noch die volle Kontrolle hat.

Es gibt viele Gerüchte – Putin sei schwach, Putin leide an Demenz oder Sonstigem. Aus meiner Sicht gibt es ein Körnchen Wahrheit in der Beobachtun­g, dass Putin sich aus der Tagespolit­ik stärker heraushält. Wir alle kannten ihn bisher als geschickte­n Taktiker, als „Judo-Meister“, der die Schwächen seiner Gegner kennt und nützt – man denke an Syrien, die Ukraine. All das war anders in letzter Zeit. Damit will ich nicht sagen, dass er gar keine Entscheidu­ngen mehr trifft oder bereits Geisel gewisser Kräfte wäre, nein. Aber er scheint nicht mehr am Tagesgesch­äft interessie­rt zu sein. Der Staat beschützt den Putinismus. Wenn wirklich Putin noch für alles verantwort­lich wäre, dann wären die Entscheidu­ngen über den Umgang mit Nawalny cleverer ausgefalle­n. Es ist klar, dass hier der Apparat für ihn entschiede­n hat.

Auf welche Weise kann es in Russland überhaupt noch zu Veränderun­gen der Machtverhä­ltnisse oder des Systems kommen?

Im Westen glaubt man, Russland müsse nur Putin loswerden, dann würde es ein demokratis­cher Staat nach westlichem Vorbild. Russland wird nie so werden – weil es ein riesiges Land ist und andere nationale Interessen vertritt. Gereeiner det wird in Moskau derzeit viel über eine mögliche Palastrevo­lution. Das muss nicht blutig oder mit Festnahmen enden, sondern könnte auch ein friedliche­r Übergang sein – etwa wie 1964, als mein Großvater Nikita Chruschtsc­how abgesetzt wurde und Breschnew an die Macht kam. Oder wie der Wechsel von Boris Jelzin zu Wladimir Putin, als Jelzin ihn am 31. Dezember 1999 plötzlich als seinen Nachfolger präsentier­te.

Und wer könnte da eines Tages nach Putin kommen?

Das wissen wir noch nicht. Allerdings fällt auf, dass Dmitri Medwedew, der einst Premiermin­ister war und dann als Statthalte­r für Putin das Präsidente­namt übernahm, jetzt plötzlich wieder da ist. Eigentlich hatten wir ihn in Russland schon längst vergessen. Auf einmal ist es jetzt Medwedew, der eine Rede hält und auf die Wahlen in den USA reagiert.

Auch Medwedew wurde von Nawalny in einem Enthüllung­svideo über seine Villen und Jachten bloßgestel­lt und ist unbeliebt.

Das hat wenig zu bedeuten. Der Apparat kann jederzeit gute Umfragewer­te für ihn schaffen, indem man dem Volk erzählt: Was waren das doch für schöne Zeiten unter Medwedew, als wir entspannte­re Beziehunge­n zum Westen hatten und dieser in Russland investiert hat. Wir brauchen Medwedew wieder. Es wäre so eine Art „Tauwetter“, mit weniger Kontrolle und etwas mehr Öffnung. Diese könnte dann unter Erhalt des Systems und des Putinismus stattfinde­n. Ob das aber der Wandel ist, den sich die Menschen bei den Protesten wünschen, steht auf einem anderen Blatt.

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NINA CHRUSCHTSC­HOWA
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APA (2) Auch für heute sind in Russland Proteste für Nawalnys Freilassun­g geplant

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