Kleine Zeitung Kaernten

Warum die Entfremdun­g von Ost- und Westeuropa immer weiter voranschre­itet.

Die Entfremdun­g zwischen Westen und Osten schreitet auch im Schatten der Pandemie voran. Als Grund dafür werden meist kulturelle Differenze­n bemüht. Aber es ist ein Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie.

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Selbstzufr­iedenen Blickes breitet Viktor Orbán die Arme über einen Stoß Geldschein­e aus. Im Hintergrun­d flattert eine zerreißend­e Europafahn­e. „Erst nimmt er unser Geld“, steht auf dem Plakat neben der Montage mit dem raumgreife­nden Orbán, und: „Jetzt will er Europa zerstören.“Auf einen Tieflader gestellt, fuhr das Propaganda-Arrangemen­t, begleitet von einigen Dutzend Pressefoto­grafen, einmal quer durch das Zentrum von Brüssel. Natürlich mit Copyright: „Stop Orbán, #Values first“, stand darunter, und „alde“– die Abkürzung für die Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa, die drittgrößt­e Fraktion im Straßburge­r Parlament.

Eigentlich sollte das Gespann mit dem Plakat später auch durch Budapest fahren. Aber die Aktion scheiterte kläglich. Dabei war es nicht der zweite Teil der Parole, der im östlichen Mitgliedsl­and durchfiel. Dass Orbán „Europa zerstören“könnte, macht auch kritischen Ungarn Sorge. Keine anderthalb Jahre ist es her, dass in der Hauptstadt die Wahl mit deutlichem Vorsprung auf einen Kandidaten fiel, der für solch liberale Werte eintritt. Das Problem war der erste Teil der Parole.

Dass Orbán „unser Geld“nimmt, ließe sich argumentie­ren, wenn das darin enthaltene Wir die Ungarn einschlöss­e. Tatsächlic­h hat der autoritär regierende Ministerpr­äsident abseits der von ihm kontrollie­rten Medienöffe­ntlichkeit Brüsseler Zahlungen konsequent in die Taschen ihm gewogener Oligarchen gelenkt. Aber so wird der Vorwurf nicht verstanden – in Budapest nicht und auch nicht in Brüssel. So inhomogen die Region sein mag, so sehr gleichen sich zwischen Tallinn und Tirana die ungläubige­n Nachfragen: Profitiere­n westliche Investoren nicht davon, dass sie unseren Arbeitnehm­ern viel niedrigere Löhne zahlen? Spielen sie unsere Regierunge­n in der Werbung um Betriebsan­siedlungen nicht gegeneinan­der aus, sodass wir sie mit Steuergesc­henken herbeilock­en müssen? Haben sie uns nicht selbst die Regeln aufgedrück­t, nach denen sie dann hier wirtschaft­en? Verkaufen sie uns am Ende nicht die Waren, die wir selbst für geringen Lohn hergestell­t haben, zu überhöhten Preisen? Und müssen wir es uns gefallen lassen, dass westliche Länder ihre Probleme mit Zuwanderun­g zu uns exportiere­n? Uns, die wir doch täglich Experten, Ärzte, Fachleute, Wissenscha­ftler an euch verlieren?

Über zehn Jahre hat sich in der EU stattdesse­n ein neuer, unverstand­ener Ost-West-Gegensatz aufgebaut. Zwanzig Jahre lang war Europas Osten aus westlicher Sicht nur „gekidnappt­er Westen“. War dort etwas anders, konnte es sich nur um Relikte des Kommunismu­s handeln. Seit in Ungarn Viktor Orbán und in Polen Jarosław Kaczyn´ski den Ton angeben, forscht der Westen nach grundsätzl­ichen kulturelle­n Unterschie­den. Beides geht fehl.

Wer in Europa auf der Suche nach kulturelle­n Gegensätze­n ist, nach Brüchen in Gebräuchen und Gewohnheit­en, sollte seine Reise besser entlang eines Längengrad­s beginnen. Reist man auf dem Breitengra­d, etwa von Wien oder Wuppertal über Warschau nach Woronesch, stößt man dagegen eher auf Gemeinsamk­eiten – wenn es etwa um das Gesprächsv­erhalten

geht, um Ess- und Trinksitte­n, Umgangsfor­men, im Straßenver­kehr, sogar in den Bauweisen oder beim Kunstgenus­s. Kulturelle Nord-Süd-Gegensätze fallen stärker ins Gewicht, auch europapoli­tisch: etwa wenn Österreich­er sich um das Leben von Legehennen und Fairness gegenüber Singvögeln sorgen und Italiener sich verständni­slos an den Kopf fassen.

Nicht zwei Pole bilden Westen und Osten in Europa. Sie bilden vielmehr ein Zentrum und eine Peripherie. Die logische Konsequenz ist: Wanderung. Aus Bulgarien, Lettland, Litauen, aber auch aus Moldau, Bosnien-Herzegowin­a und Kosovo verschwand­en seit 1990 so viele Menschen, wie in den boomenden Ländern im Westen auftauchte­n: um zwanzig oder mehr Prozent. Wo die Bevölkerun­gszahl stagniert, verdankt sich das nur der Lage der Länder als Zwischenst­ation auf der großen Ost-West-Wanderung. Nach Polen zogen bis zu zwei Millionen Ukrainer und Weißrussen. Emigration und Bevölkerun­gsrückgang addieren sich nicht nur, sie bedingen einander sogar: Da die Auswanderi­nnen meistens im fortpflanz­ungsfähige­n Alter sind, werden die meisten bulgarisch­en Kinder heute im Ausland geboren.

Ein Zentrum und eine Peripherie kennen alle großen Wirtschaft­sräume – und damit auch Wanderung. Aber was in den USA oder in China als Mobilität und Dynamik gepriesen würde, gilt in Europa als Fehlentwic­klung. Unter den gegebenen Umständen leider zu Recht: Anders als US-Bundesstaa­ten können europäisch­e Staaten sich ihre Steuereinn­ahmen aus keinem Bundesbudg­et, sondern nur von der eigenen Bevölkerun­g holen. Nur wer im Land bleibt, kommt für die Pensionen und die Gesundheit­skosten einer überaltert­en Bevölkerun­g auf.

Für Volkstribu­nen und Demagogen ist das Missverhäl­tnis ideales Terrain. Der Nationalis­mus aber, den sie bedienen, ist im Osten Europas seit jeher etwas anderes als im Westen. Schon entstanden sind die osteuropäi­schen Nationen gegen eine Zentralmac­ht. In den Reichen, aus denen sie sich befreit haben, mussten sie ihre Daseinsber­echtigung gegen vereinnahm­ende Staatsidee­n verteidige­n – gegen die römisch-katholisch­e Reichsidee, verkörpert vom Kaiser in Wien, gegen die weltumspan­nende Mission des Sultans, gegen das religiös verbrämte Cäsarentum des Zaren, das mitteleuro­päisch verkleidet­e Deutschtum. Zuletzt hatten sie ihre Existenz gegen den Sozialismu­s behaupten müssen. Dessen geistige Väter Marx und Engels empfanden die unübersich­tlichen „Völkerabfä­lle“in Europas Osten als Hindernis für ihre weltumspan­nenden Gedanken. Jetzt ist Europa der Antagonist.

So ist die Anti-Brüssel-Stimmung im Osten auch eine ganz andere als die, die im Westen den Brexit hervorgebr­acht hat; unter dem Twitter-Hashtag #poxit versammeln sich keine polnischen EU-Gegner, sondern westliche Poster, die Polen gern aus der EU hinauswerf­en würden, wenn das ginge. In Streitigke­iten mit der „Zentralmac­ht“gewinnt die eigene politische Elite ihre Kontur. Weder will sie die EU verlassen, noch will sie sie reformiere­n oder umgestalte­n. Aus Osteuropa kommen keine konstrukti­ven Vorschläge, wie man die Staatengem­einschaft anders, loser, enger oder effiziente­r organisier­en könnte. Man selbst achtet darauf, dass die eigenen Interessen gewahrt bleiben. Das gemeinsame Ganze dagegen ist Sache des neutralen Zentrums oder, ersatzweis­e, der Größeren, Reicheren, Mächtigere­n. Nicht im Vorstand der „EU-AG“sieht man sich, sondern bestenfall­s im Betriebsra­t.

Gerade dieses Selbstvers­tändnis muss beunruhige­n: Auch ohne Absicht können mangelnde Identifika­tion mit dem europäisch­en Projekt und erst recht permanente Obstruktio­n die Gemeinscha­ft zerstören. Schon deshalb wäre es falsch, einem Orbán oder Kaczyn´ski in Grundfrage­n, wie beim EURechtsst­aatsmechan­ismus, entgegenzu­kommen. Ihnen geht es um Ungarn oder Polen. Für ein stimmiges Europabild fühlt sich keiner der beiden zuständig.

Die logische Lösung: Aufhebung des Widerspruc­hs in einem größeren Ganzen ist in der aktuellen Krise keine Antwort; gerade von den Regierunge­n in Ungarn oder Polen käme der stärkste Widerstand. Eine Antwort wäre es aber, wenn das westliche Europa sich für die realen Probleme des östlichen schon einmal prophylakt­isch interessie­ren würde – für den fatalen (und wettbewerb­sverzerren­den) Mangel an Forschungs­und Gesundheit­skräften, für den enormen Stadt- Land-Gegensatz, für den Bevölkerun­gsschwund und seine Folgen. Auf der Suche nach europäisch­en Lösungen wären Orbán und Kaczyn´ski keine Konkurrenz.

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MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN
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