Wenn der zahnlose Tiger kraftvoll zubeißt
Die EU setzt auf weitere Sanktionen gegen Russland. Gleichzeitig will man den Dialog aufrechterhalten. Hat das alles Sinn?
Beim Treffen der EU-Außenminister ging es gestern unter anderem um Myanmar, vor allem aber um Sanktionen gegen mehrere Länder. Im Fall von Venezuela ist das nicht so schwierig: Einreisesperren und blockierte Vermögenswerte für Personen, die dem Umfeld von Präsident Nicolás Maduro zugerechnet werden, sind schnell beschlossen. Venezuela ist weit weg.
Im Fall von Russland ist das anders. Zwar sind sich die EULänder einig, dass der „Fall Nawalny“weitere Sanktionen erforderlich macht, über die Intensität herrschen geteilte Meinungen. Länder wie die baltischen Staaten oder Polen wollen eher den diplomatischen Bihänder auspacken, andere mahnen zur Vorsicht – man könne sich zwar nicht alles gefallen lassen, dürfe aber den Dialog nicht außer Acht lassen.
Und so gab der Außenministerrat grünes Licht für weitere Sanktionen – für genau vier Personen. Betroffen sind demnach der Chef des Ermittlungskomitees, die Direktoren der Gefängnisse und der Nationalgarde und der Generalstaatsanwalt. Die Frage ist: Wie treffsicher sind solche Sanktionen? Was ist mit den mächtigen Strippenziehern, mit Putin-treuen Oligarchen zum Beispiel? Hier ist die Suppe, sprich Beweislage für Verflechtungen, zu dünn. Wirtschaftssanktionen stehen deshalb nicht auf der Agenda, dafür hat gestern auch Eurochambres-Präsident Christoph Leitl in einem Gastkommentar für die Kleine Zeitung plädiert: „Wirtschaft“, so schrieb er, „hat den Menschen zu dienen und soll nicht als Waffe gegen sie eingesetzt werden.“Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sieht das auch so: Österreich unterstütze die Sanktionen, die Liste der betroffenen Personen solle aber „politisch smart und rechtlich wasserdicht“sein: „Sonst sägen wir am eigenen Ast.“
Aber bringt das dann überhaupt etwas? Wirkungslos sind die Sanktionen nicht, das erkennt man an der aufgebrachten Reaktion Moskaus. Schon vor dem Ministertreffen gingen beim russischen EU-Botschafter Wladimir Tschischow die Warnlichter an: „Ich möchte nicht darüber spekulieren, ob unsere Partner in der EU eine neue Runde illegitimer einseitiger restriktiver Maßnahmen gegen mein Land einleiten. Wenn das passiert, werden wir vorbereitet sein, zu antworten“, drohte er. Die Ausweisung dreier EU-Diplomaten während des eher missglückten Besuchs des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell vor zwei Wochen ist ebenso zu werten: Wenn es Putin egal wäre, was die EU macht, würde er gar nicht reagieren.
Die neuen Sanktionen stehen erstmals in Zusammenhang mit dem erst im Dezember verabschiedeten Sanktionsregime gegen Menschenrechtsverletzungen. Der Haken daran, wenn man so will: Solche Beschlüsse können nicht einfach aus politischem Kalkül getroffen werden, sie müssen auch juristisch abgesichert sein und dem Europäischen Gerichtshof standhalten. Was in der EU als Stärke ausweisbar ist – nämlich, dass man sich in aller Konsequenz an die Regeln der Rechtsstaatlichkeit hält –, ist in den Augen Putins eine Schwäche, die er genüsslich ausnutzt. Auf allen Ebenen, die sich anbieten. Am Beispiel Pandemie: das bildwirksame, aber keineswegs hilfreiche Entsenden militärischer Gerätschaften in das extrem betroffene Italien oder das gönnerhaft wirkende, aber in allen Details zu hinterfragende Angebot, doch „Sputnik V“einzusetzen.
Russland versteht es, Keile in die EU zu treiben. Umgekehrt ist das nicht die Art, mit der Brüssel agiert. Dabei könnte die EU es durchaus einmal versuchen: mit einer aktiveren Politik in Belarus zum Beispiel. Nicht einzelne Sanktionen sind es, die Putin fürchten muss – sondern ein Kippen der Stimmung in der eigenen Bevölkerung.