Kleine Zeitung Kaernten

Frankreich­s schmutzigs­te Seite des Lebens

Es ist ein Karussell der prominente­n Namen, das sich immer schneller dreht. Keine Woche, da nicht wieder Anschuldig­ungen wegen Missbrauch­s, Vergewalti­gung oder Inzest in der Öffentlich­keit verhandelt werden.

- Von unserer Korrespond­entin Martina Meister aus Paris

Es kommt nicht oft vor, dass ein Kuscheltie­r als Geisel genommen und missbrauch­t wird. Doch Gros Bleu ist das widerfahre­n. Das Bärchen sieht etwas schmuddeli­g aus und hat den Blick gesenkt. Aber Laurent Faulon hat den „großen Blauen“zurück. Für ein Porträt der Zeitung „Libération“posiert der französisc­he Künstler mit seinem Lieblingsk­uscheltier, das ihm sein Mentor, der Künstler Claude Lévêque, 1981 weggenomme­n hatte. Faulon war damals zwölf und wurde von Lévêque bereits zwei Jahre lang sexuell missbrauch­t. Vier Jahrzehnte später hat Faulon gegen den Weltstar der Kunstszene Anzeige wegen Vergewalti­gung von Minderjähr­igen erstattet.

Es ist ein Karussell der Namen, das sich immer schneller dreht, es fallen die Namen von Stars, von grauen Eminenzen, von Politikern, von Künstlern, von Fernsehmod­eratoren, Schriftste­llern, Schauspiel­ern, Filmproduz­enten. Keine Woche, da nicht wieder Anschuldig­ungen wegen Missbrauch, Vergewalti­gung oder Inzest in der Öffentlich­keit verhandelt werden. Zuletzt hat die älteste Tochter des Schauspiel­ers Richard Berry Anzeige gegen ihren Vater erstattet. Auch gegen Patrick Poivre d’Arvor, jahrzehnte­lang Anchorman der französisc­hen Abendnachr­ichten, ist Anzeige erstattet worden. PPDA, wie sie ihn in Frankreich nennen, weist alle Vorwürfe von sich.

Jüngster Fall auf der langen Liste der Promis: Gérard Depardieu. Am Dienstag wurde bekannt, dass eine junge Schauspiel­erin gegen den Weltstar bereits 2018 Anzeige wegen sexueller Nötigung und Vergewalti­gung erstattet hatte. Das Verfahren wurde erst wegen mangelnder Beweislage eingestell­t, ist

Mitte Dezember aber wieder aufgenomme­n und einem Untersuchu­ngsrichter übergeben worden. Depardieu ließ durch seinen Anwalt mitteilen, dass er die Vorwürfe „vollständi­g“bestreite.

Die Welle von #MeToo, die

seit 2017 über Frankreich schwappt, will nicht abflauen. Sie wird aber als das genommen, was sie wirklich ist: Die Dramen mit bekannten Protagonis­ten sind lediglich der fassbare Ausdruck eines tiefergehe­nden gesamtgese­llschaftli­chen Problems.

Es geht nicht mehr nur um prominente Einzeltäte­r, die dank ihrer Macht jahrzehnte­lang Narrenfrei­heit genossen haben, sondern um die Strukturen, die die Täter schützten. Das ist unbequem. Weshalb manche versuchen, Pädophilie und Inzest als besonders hässliche Seite von Frankreich­s ansonsten ganz unterhalts­amer Links-Bourgeoisi­e abzutun, ganz so, als beschränke sich der Inzest tatsächlic­h auf SaintGerma­in-des-Prés und sei nur eine weitere Folge der Ausschweif­ungen der 68er.

Das konservati­ve Magazin

„Le Point“begab sich auf Spurensuch­e in die Hinterzimm­er der „Kaviar-Linken“. Aber der Verdacht liegt nahe, dass es für Ausschweif­ungen der 70er- und 80er-Jahre kein Parteibuch brauchte. Jedes zehnte Kind in Frankreich, das haben Umfragen ergeben, soll Opfer von Inzest sein. „Inzest ist überall, er hat keine politische Richtung, er kommt rechts wie links vor“, sagt Camille Kouchner, Autorin des Enthüllung­sbuches „La familia grande“.

Der Kulturbetr­ieb wird von immer mehr Opfern, die an die Öffentlich­keit gehen, zur Introspekt­ion gezwungen. Alles, was Intellektu­elle, Politiker, Künstler und Medienvert­reter jahrzehnte­lang in den dunklen Alkoven der Republik trieben, wird ans Licht gezerrt und nicht länger als kulturelle Ausnahme und einen durch Kulturgesc­hichte bedingten Mentalität­sunterschi­ed abgetan. Es fühlt sich an wie eine Zeitenwend­e.

Sie mag mit der Verhaftung des linken Hoffnungsp­olitikers Dominique Strauss-Kahn 2011 in New York begonnen haben, aber erst jetzt sind ihre Auswirkung­en überall zu spüren, selbst an den Elitehochs­chulen. Studentinn­en der Politikwis­senschafte­n aus Toulouse, Bordeaux, Grenoble und Straßburg haben jetzt etliche Fälle sexueller Gewalt öffentlich gemacht.

Kouchners Buch hat sich 300.000 Mal verkauft. Ihr Zwillingsb­ruder hat, auch wenn das Verbrechen verjährt ist, Anzeige erstattet. Aber die Frage muss erlaubt sein, ob ihr Buch dieselbe Wirkung entfaltet hätte, wenn die Protagonis­ten nicht in Paris, an der Côte d’Azur und über Frankreich hinaus bekannt wären? Insofern kommt den Opfern der berühmten Täter eine besondere Verantwort­ung zu: Weil es einen medialen Sturm auslöst, ist es für sie noch schwerer, das Schweigen zu brechen.

Das Kuscheltie­r

von Faulon wirkt wie das traurige Symbol für das Leid aller von strahlende­n Stars missbrauch­ten Kinder. Lévêque, der mutmaßlich­e Täter, wusste vermutlich genau, warum er es vom vorpubertä­ren Faulon verlangt hatte: Er demonstrie­rte damit die Macht, die er über sein Opfer hatte. Gros Bleu taucht später als Silhouette in Lévêques Werken auf. Auch ein Plakat mit dem Kuscheltie­r gibt es. Auf dem Bauch des Bären liegt ein Zettel mit dem handgeschr­iebenen Satz: „Ich habe nichts zu verlieren/ich bin schon tot.“

Faulon haben weder die Drogen zerstört noch hat ihn die Kunst gerettet. Er ist ein Überlebend­er. Ein Jahr nachdem er 2019 Anzeige gegen Lévêque erstattet hatte, verlangte er Gros Bleu zurück. Das Kuscheltie­r kam per Post. Es lag, wortlos, in einem Pappkarton.

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Laurent Faulon hat sein Kuscheltie­r Gros Bleu, den großen Blauen, zurück AUDOIN DESFORGES/PASCO&CO
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