Reise nach Jerusalem
Die Kommunikation von Sebastian Kurz im Vorfeld seiner Israelreise vermittelt: Die EU hat versagt. In der Wirtschafts- und Gesundheitskrise ist das ein fatales Signal.
Beim Kinderfasching, der heuer ausfallen musste, weil noch nicht einmal sechs Prozent der Bevölkerung gegen Corona geimpft sind, gibt es ein beliebtes Spiel. Alle Kinder tanzen, und wenn die Musik aufhört, müssen sie einen Platz ergattern. Doch immer gibt es einen Sessel zu wenig. Am Schluss bleibt der Gewinner übrig. Das Spiel heißt Sesseltanz, oder: Reise nach Jerusalem.
Morgen reist Bundeskanzler Sebastian Kurz tatsächlich nach Jerusalem. Auch dabei geht es um ein knappes Gut. Auch dabei gibt es Begleitmusik, und zwar die dröhnendste, die der Markt hergibt: „Kanzler Kurz bricht mit EU-Versagern“titelte die mächtige deutsche „Bild“Zeitung gestern. Ganz Europa soll wissen: Kurz will sich „nicht mehr auf die EU verlassen“. Österreich und Dänemark wollen nun mit Israel gemeinsam Impfstoffe gegen das Coronavirus produzieren.
Auch wenn die verbale Zuspitzung den Kollegen vom deutschen Boulevard geschuldet ist, hinterlässt Kurz’ Kommunikation vor seiner IsraelReise den nonverbalen Eindruck: Die EU hat versagt.
Ja, die EU hat Fehler gemacht. Zu spät hat man sich damit beschäftigt, wie die Impfstoffe in die Massenproduktion gehen können. Komplikationen wurden unterschätzt. Man hat auch verabsäumt, Lieferketten zu sichern und sich abhängig gemacht, als etwa Großbritannien sein Exportverbot verhängte. Andererseits: Wie komplex die logistische Herausforderung ist, zeigt sich heruntergebrochen auch in kleineren Einheiten, etwa wenn es die Steiermark nicht schafft, verabreichte Impfungen lückenlos zu dokumentieren.
Sicherheit und Vertrauen sind gerade bei Medikamenten essenziell. Man denke an den Impfstoff von AstraZeneca. Obwohl der durch ein – von Sebastian Kurz als „zu langsam“kritisiertes – aufwendiges Verfahren durch die Europäische Arzneimittelagentur zugelassen wurde, stößt er in der Bevölkerung auf viel Skepsis. Wie wäre das aber erst bei Impfstoffen gewesen, die in einem weniger genauen Eilverfahren approbiert werden? ittlerweile ist sich ganz Europa einig, dass es jetzt darum geht, Produktionskapazitäten auszubauen. Dafür bracht es Geld. Und auch Geduld. Denn eine Produktionsstätte für Impfstoffe lässt sich nicht in wenigen Wochen errichten – schon gar nicht für jene, die mittels der neuen mRNA-Technologie schneller an künftige Mutationen angepasst werden können.
Dafür muss sich ganz Europa jetzt rüsten. Wenn eine CoronaImpfung womöglich in regelmäßigen Abständen verabreicht werden muss, ist es grundvernünftig, jetzt für die Zukunft vorzubauen. Es ist grundvernünftig, dafür internationale Allianzen einzugehen. Die wirtschaftlich, gesundheitlich und psychisch angespannte Situation allerdings zu nutzen, um konstruktive Pläne mit Seitenhieben auf die EU zu dekorieren, legt aber nahe, dass es auch darum geht, beim politischen Sesseltanz als Sieger hervorzugehen.
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