Kleine Zeitung Kaernten

Kleines Land

Die Untertreib­ung der eigenen Größe sorgt nach außen für Verwunderu­ng – vielleicht ist sie eine Lehre aus der Geschichte.

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Ich bin in einem kleinen Land aufgewachs­en. Wenn ich als Junge in den 70ern die ARD-Tagesschau sah, wiesen meine Eltern gelegentli­ch auf die zierliche Silhouette der westdeutsc­hen Bundesrepu­blik auf der Weltkarte. Meine Eltern waren von den Folgen von Größenwahn und Krieg geprägt; ihre Erziehungs­botschaft erkannte ich auch am Schwarz-Weiß-Bildschirm gut: Dieses schmale Handtuch namens Deutschlan­d hat global gesehen nichts zu melden. Deutschlan­d ist mit der Wiedervere­inigung 1990 gewachsen, aber groß geworden ist es in meiner Wahrnehmun­g erst so richtig, seitdem ich in Österreich lebe. Denn den Status des „kleinen Landes“mag sich hier, so scheint es, niemand nehmen lassen, schon gar nicht von Deutschlan­d. „Österreich ist ein kleines Land“, diesen Satz höre ich fast so oft wie „Österreich ist ein schönes Land“. Letzteres würde ich unterschre­iben, mit Ersterem hadere ich etwas.

Ein Blick auf die Fakten: Österreich ist die neuntgrößt­e Volkswirts­chaft der 27 EU-Staaten und zugleich ökonomisch die Nummer 27 in der Welt. Ist das klein? Von den acht unmittelba­ren Nachbarn haben drei eindeutig weniger Einwohner als Österreich, nämlich die Slowakei, Slowenien und Liechtenst­ein. Mit Ungarn, Tschechien und der

Schweiz liegt man etwa auf einer Höhe. Nur zwei sind deutlich größer, nämlich Deutschlan­d und Italien.

Wenn Österreich klein sein soll, welches Adjektiv bleibt dann für die kleineren Nachbarn reserviert? Was sind heute überhaupt die Kriterien für Größe: die Zahl der Einwohner, der Soldaten oder der Nobelpreis­träger, die Fläche oder das Bruttoinla­ndsprodukt?

Wir wissen alle, wie oft Selbst- und Fremdeinsc­hätzung auseinande­rgehen. In meinem Lieblingsc­omic „Asterix als Legionär“wählt der, sagen wir: kräftige Gallier Obelix in der römischen Kleiderkam­mer die Größe „Mittel“. Entnervt schmeißt er bei der Anprobe die zu enge Rüstung dem Zeugwart an den Kopf.

Ein österreich­ischer Obelix würde vermutlich „Klein“wählen. Der deutsche Obelix ist allerdings nicht anders, er bevorzugt „Mittel“, was auch für Argwohn sorgt. Manchmal wird uns vorgeworfe­n, wir wollten uns damit der eigenen Führungsve­rantwortun­g entziehen. „Schluss mit der Heuchelei“, schrieb ein Schweizer Autor einmal: „Deutschlan­d ist eine Großmacht.“

A lles ist eben relativ, auch die Größe. Vermutlich ist es besser zu behaupten, das eigene Land sei klein, als die eigene Größe zu betonen. Die Lektion haben wir beide, Deutsche und Österreich­er, gelernt.

Ralf Beste ist seit 2019 deutscher Botschafte­r in Österreich. In einem früheren Leben war er Journalist.

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