Letztes Jahr in Liverpool
Noch ahnte die Masse nicht, dass es das letzte Mal war, dass sie diesen Gesang anstimmen durfte.
Heute vor einem Jahr flog ich nach Liverpool, wie immer bei mir eine untrennbare Mischung aus Beruf, Berufung, Arbeit und Lust. D. h. , ich war in der berühmten Anfield Road, um den FC Liverpool in einem Premier-League-Spiel gegen Burnmouth zu sehen – das des Fernsehdiktats wegen am Samstagmittag stattfand. Entweder waren Sechzigtausend eine Stunde zu früh oder ich eine Stunde zu spät. Jedenfalls verpasste ich, dunkle Visionen im Kopf, den eigentlichen Grund meines Kommens: Das „You’ll never walk alone“.
Noch ahnte die Masse nicht, dass es das letzte Mal war, dass sie diesen Gesang anstimmen durfte. Noch war keiner der hundertzweiundzwanzigtausend Briten gestorben. Rund um uns saßen allerdings im Abstand von zwei Zentimetern hauptsächlich vermummte Asiaten. Noch gespenstischer waren aber die Breaking News der BBC im Frühstücksraum des
Hotels Monfort zu Plumpudding, Eggs & Orange Marmelade: VIRUS OUTBREAK!! in Laufbuchstaben am
Bildschirmrand, dazu aufgeregte
Liveschaltungen zu den Korrespondenten in Northern Italy. Obwohl es seit William the Conquerer 1066 kein Eroberer mehr geschafft hatte, einen Fuß auf britisches
Territorium zu setzen, obwohl man schon mitten im Brexit war, obwohl die Briten viele Durchhalteparolen zur Verfügung haben (Always victorious, happy & glorious; In Klopp we trust! Klopp save the Queen! - Auch meine Begleiterin beteuerte: „Der Klopp ist sooo sympathisch. Der hat 1000 Zähne im Mund!“), obwohl Gelassenheit in allen Lebenslagen britische Maxime ist, spürte man Panik keimen. So packten wir mit einem mulmigen Gefühl unsere Koffer und waren froh, bei Weltuntergangswetter zum John-Lennon-Airport zu kommen, in die Lauda-Maschine zu flüchten und nach Hause zu fliegen.
So viel Interessantes hätte ich zu erzählen gehabt: Vom Albert-Dock, dem Hafen mit den drei Grazien, den Messing-Beatles und dem berühmten Zebrastreifen, den es in jedem Liverpooler Souvenirshop, aber auf keiner Liverpooler Kreuzung gibt, nicht zuletzt von den entzückenden violetten Mülltonnen. Aber das alles interessierte zu Hause niemanden mehr, es gab nur noch ein Thema. Seither bin ich nirgendwo mehr gewesen, nicht einmal in Tirol oder in Südafrika zum Golfspielen. Vor einem Jahr prognostizierten die Zukunftsforscher, in einem Jahr werde das Thema kein Thema mehr sein. Irrtum! I always walk alone!