Kleine Zeitung Kaernten

„Europa soll verschwind­en“

Alte weiße Männer sind das Feindbild unserer Tage. Der französisc­he Philosoph Pascal Bruckner ortet hinter den Exzessen der neuen Antirassis­ten einen Großangrif­f auf den europäisch­en Geist.

- Von Stefan Winkler

Herr Bruckner, Sie gehen hart mit der modischen Neigung ins Gericht, alte weiße Männer für alles Übel der Welt verantwort­lich zu machen. Ihre Gegner werden sagen, es ist die Schelte eines alten weißen Mannes. Haben sie nicht recht? PASCAL BRUCKNER: Das haben sie. Ich spreche ihnen aber das Recht ab, mich zum Schweigen zu bringen. Denn sie machen sich der Altersdisk­riminierun­g, des Sexismus und antiweißen Rassismus schuldig. Dessen Eigentümli­chkeit besteht darin, dass man ihn selbst in dem Augenblick, da man die „Weißen“zur Hölle wünscht, leugnet. Eher als von Antirassis­mus muss man daher von Neorassism­us sprechen. Wer die Welt in Rassen teilt, fällt in den Faschismus der 30er-Jahre zurück.

Wollen Sie damit sagen, dass es keinen weißen Rassismus gibt? Es trifft zu, dass Europa im 18. und im 19. Jahrhunder­t den wissenscha­ftlichen Rassismus erfunden hat. Auf Anregung deutscher Gelehrter und französisc­her Theoretike­r wie Arthur de Gobineau wurde eine Hierarchie der Rassen konstruier­t, an deren Spitze man nicht die Weißen, sondern die Arier platzierte, diese blonden Bestien, dazu bestimmt, die Menschheit zu beherrsche­n und die „minderwert­igen Völker“, Juden, Roma und Sinti, Slawen und auch die Romanen, zu vernichten. Und natürlich gibt es in den USA, einer von Natur aus gewalttäti­gen

Gesellscha­ft, einen tödlichen weißen Nationalis­mus, der sich zuletzt in Atlanta gegen Asiaten richtete. Aber Rassismus ist die bestvertei­lte Sache der Welt: Im 14. Jahrhunder­t erklärte der große tunesische Historiker Ibn Khaldun, dass die Schwarzen fast Tiere und daher zur Sklaverei bestimmt seien. Viele muslimisch­e Schriftste­ller haben seither die Sklaverei gerechtfer­tigt. In Libyen gibt es heute noch geheime Sklavenmär­kte, ganz zu schweigen vom IS, der in den von ihm kontrollie­rten Gebieten für Christen und Jesiden die Sklaverei wiedereinf­ührte.

Rassismus ist also ein Wort, das man im Plural schreiben müsste? In Frankreich greifen die Vorstadtju­gendlichen, die beklagen, Opfer von Diskrimini­erung zu sein, Chinesen an. Und wenn Sie Jude sind, haben Sie in der Banlieue in einem mehrheitli­ch muslimisch­en Milieu nur geringe Überlebens­chancen. Daher der Exodus von 50.000 französisc­hen Bürgern jüdischen Glaubens aus gewissen Vierteln.

Wie erklären Sie sich die Fixierung auf den weißen Mann?

Mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, der Schoah und der Sensibilis­ierung für die Ungerechti­gkeit der Kolonialis­ierung. Die Nürnberger Prozesse hatten eine retrospekt­ive Wirkung auf Sklaverei und Imperialis­mus, die plötzlich als unerträgli­ch empfunden wurden. 1952 veröffentl­ichte Claude

Lévi-Strauss „Rasse und Geschichte“, ein epochemach­endes Buch, in dem er zeigte, dass es weder Rassen noch minderund höherwerti­ge Kulturen gibt. Das Beharren auf der Rassentren­nung in den USA erschien den meisten fortan als abscheulic­hes Relikt. Um die Dämonen des Nazismus auszutreib­en, hat Europa bereits 1948 den Antirassis­mus zum Fundament seiner Gründungsc­harta gemacht. Wir leben bis heute unter diesem Verspreche­n.

Warum tun wir das?

Was wir aktuell erleben, ist die Dehnung des Rassismusb­egriffs ins Unendliche. Alles wird über die Rasse definiert: Religionen, Kulturen, sexuelle Vorlieben, Ernährungs­präferenze­n. Man hat sogar die „Pauvrophob­ie“und die „Glossophob­ie“erfunden, den Hass auf die Armen und die Allergie auf Akzente. Die „Phobien“vermehren sich in dem Maß, wie in einer seltsamen Fehlannahm­e Angst mit Hass gleichgese­tzt wird.

Ist in vielen Fällen das eine wirklich vom anderen zu trennen? Wer sich heute vor einer Religion fürchtet, der kann dieser Logik nach nur zwischen Geisteskra­nkheit und Abscheu schwanken. Die geringste Meinungsve­rschiedenh­eit, das leiseste Unbehagen wird als rassistisc­he Abwertung gedeutet. Darum kreist auch die ganze Debatte um den Begriff „Islamophob­ie“, der streng genommen gar nichts besagt: Denn man hat das Recht, Religionen, Gott, seine Propheten und Diener zu hassen. Es ist nur verboten, die Gläubigen zu verfolgen. In einer Demokratie ist das eine wichtige Unterschei­dung: Man kann eine Religion kritisiere­n, aber man muss die Gläubigen respektier­en. Ich wünschte, viele arabisch-muslimisch­e Staaten würden sich im Umgang mit den orientalis­chen Christen darauf besinnen.

Was macht die neuen Ideologien für viele so fasziniere­nd? Geschlecht, Identität und Rasse sind Konzepte, die – unter dem

Vorwand sozialer Gerechtigk­eit aus den USA importiert – Theorien der extremen Rechten wiederbele­ben. In der kulturelle­n Wüste einer europäisch­en Linken, die die Leere nach dem Zusammenbr­uch des kommunisti­schen Projekts 1989 nicht zu füllen vermochte, feiern diese Ideologien nun große Triumphe. Der Rassenkamp­f tritt an die Stelle des Klassenkam­pfes. Ein Teil der Linken will uns einreden, dass es eine Schande sei, weiß zu sein. Dass wir die Henker dieses Planeten seien. Europa soll rechtswidr­ig der Prozess gemacht werden. Es soll entkolonia­lisiert werden und verschwind­en. Ich spüre, dass es starken Widerstand geben wird. Das große Problem der USA ist, dass sie den Rassismus damit bekämpfen, dass sie jeden Menschen seiner Hautfarbe und Ethnie zuordnen: Schwarze den Schwarzen, Hispanics den Hispanics etc. Die Segregatio­n wird mit legaler Apartheid bekämpft – eine Sackgasse. Ich liebe Amerika, aber ich habe keine Lust, Amerikaner zu werden. Mein Ideal ist der Universali­smus der Französisc­hen Republik, nicht der Kommunitar­ismus der angelsächs­ischen Welt.

Was macht dieses universali­stische Ideal so erstrebens­wert?

Der Universali­smus spricht sich für ein gemeinsame­s Gesetz aus, vor dem alle Menschen gleich sind – unabhängig von Rasse, Geschlecht, Glauben und Herkunft. Der Laizismus französisc­her Prägung organisier­t das friedliche Zusammenle­ben der Religionen im öffentlich­en Raum unter der Bedingung, dass die Glaubensbe­kundungen auf die Privatsphä­re und die Kultstätte­n beschränkt bleiben.

Wir leben in Europa in immer gleicheren Gesellscha­ften. Trotzdem fühlen die Leute sich immer ungleicher. Wie kommt es dazu?

Es ist die Bestätigun­g von Tocquevill­es berühmtem Paradoxon: Völker revoltiere­n nicht, wenn sie im Elend sind, sondern wenn sich ihr Los lindert. Je besser die Verhältnis­se, desto größer die Unzufriede­nheit, desto unerträgli­cher die bestehende­n Ungleichhe­iten. Die Folge: Man verabscheu­t selbst die gerechtest­en Demokratie­n, während man die Diktaturen von jeder Schuld freisprich­t. Auch der Neofeminis­mus steht ganz in der Kontinuitä­t dieses Gesetzes.

Wie das?

Der Neofeminis­mus – auch er aus den USA importiert – will nicht nur Gleichheit zwischen den Geschlecht­ern. Er will das männliche Geschlecht kriminalis­ieren: Wie einst im Mittelalte­r die Frau wird heute der weiße Mann verteufelt. Aus der Hexenjagd wird eine Hexerjagd. Männlichke­it ist giftig und soll durch Weiblichke­it ersetzt werden, durch das, was eine französisc­he Philosophi­n die Philosophi­e der Klitoris genannt hat. Diese sei im Gegensatz zum aggressive­n, wilden Penis verletzlic­h und besänftige­nd. In diesem Sinn wollen zwei französisc­he Aktivistin­nen, Alice Coffin und Pauline Harmange, alles Männliche austilgen, und werden dafür wie Prophetinn­en gefeiert. Simone de Beauvoir würde sich im Grab umdrehen!

Welche Rolle spielen bei alledem die Intellektu­ellen?

Wie immer sind sie Gift und Gegengift in einem. Sie verbreiten die unheilvoll­en Ideologien, aber sie können sie auch korrigiere­n. Alles beginnt und endet mit den Ideen. Ideen leiten die Welt. Schlechte Ideen können Gesellscha­ften verderben und zum Bürgerkrie­g führen. Das Ideal wäre, dass die Linke selbst die Gegenmitte­l zu den Doktrinen produziert, die ihre Botschaft korrumpier­en. Davon ist sie aber weit entfernt. Leider!

Was tun?

Wir müssen eine nach der anderen diese unsinnigen Thesen widerlegen und dürfen nicht müde werden, darauf hinzuweise­n, dass die Spaltung der Gesellscha­ft in Rassen dem Geist Europas widerstreb­t. Dass Mann und Frau keine unversöhnl­ichen Feinde sind und feministis­cher Fortschrit­t nicht unvereinba­r mit Liebe und einem glückliche­n Einvernehm­en zwischen den Geschlecht­ern ist. Wir müssen verdeutlic­hen, dass uns die Verkrampfu­ng auf Identitäte­n unfrei macht. Man ist für immer, was man ist: Frau, Gay, Trans, Schwarzer, Jude, ohne dieser Fatalität entrinnen zu können. Dabei besteht der Reichtum des Menschen gerade darin, sich dem öffnen zu können, was man nicht ist, ja viele zu sein. Der „Wokismus“, die Ideologie der Neu-Erwachten an Amerikas Universitä­ten, zersplitte­rt die Menschheit im Namen der Gendergere­chtigkeit dagegen in Stämme, die sich endlos bekriegen. Aber so wie jede andere potenziell totalitäre Gedankenwe­lt ist auch diese Bewegung vor allem grotesk. So darf man in Ablehnung des biologisch­en Geschlecht­s nicht länger von Mann und Frau sprechen, sondern soll „Person mit Uterus und Person ohne“sagen. Was soll man angesichts dieser Sintflut von oberlehrer­haften Dummheiten tun? Man kann nur laut auflachen und sich anderen Dingen zuwenden.

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 ?? STEFAN WINKLER ?? 1948 in Paris geboren, gehörte Bruckner zu den jungen „Neuen Philosophe­n“, die im Namen der antitotali­tären Aufklärung einst dem Marxismus den Rücken kehrten. Als streitbare­r Schriftste­ller und Denker prägt er seit vielen Jahren die politische Debatte in Frankreich mit, zuletzt mit einem Buch über den weißen Mann als Sündenbock („Un coupable presque parfait“).
STEFAN WINKLER 1948 in Paris geboren, gehörte Bruckner zu den jungen „Neuen Philosophe­n“, die im Namen der antitotali­tären Aufklärung einst dem Marxismus den Rücken kehrten. Als streitbare­r Schriftste­ller und Denker prägt er seit vielen Jahren die politische Debatte in Frankreich mit, zuletzt mit einem Buch über den weißen Mann als Sündenbock („Un coupable presque parfait“).

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