Die Schattenseite der Empathie
Wenn wir nur alle mehr miteinander mitleiden könnten, wäre die Welt ein besserer Ort, heißt es oft. Aber es birgt auch Gefahren, wenn uns das Leid anderer überwältigt.
1978 in Teheran geboren, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Graz. Sie ist Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2021.
Wenige Tage bevor Putins Militär die Ukraine überfiel, löschte ich meinen Twitter-Account, weil ich gespürt hatte, wie das Lesen der Tweets mich gegen radikale Impfgegner radikalisierte. Das gefiel mir nicht. Und wenn Mitten in Europa ein Krieg ausbricht, dachte ich, will ich auf Twitter nicht hineingerissen werden in den Strudel aus Bildern, Schicksalen und FreundFeind-Bekundungen. Ich wollte mich nicht vor Informationen und auch nicht vor dem Leid der Menschen in der Ukraine verschließen, aber ich wollte beides selbst dosieren können. Der Krieg in Syrien und Jemen, das Elend an den EU-Außengrenzen, der Abzug der USA und ihrer Verbündeter aus Afghanistan, Gewalt und Hungersnot in Äthiopien – all das hatte zu einer Empathiemüdigkeit bei mir geführt. Nun, keine drei Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine, gewinne ich den Eindruck, dass es vielen so geht. Die Betroffenheit lässt nach, wir gewöhnen uns an das Grauen wenige Autostunden entfernt. Sollte das nicht bedenklich stimmen, dass sich unsere viel gepriesene Empathie so schnell abnutzt? Jein.
Empathie im klassischen Sinne ist affektiv, wir können uns nicht dagegen wehren. Studien zeigen, dass bei Versuchsteilnehmenden bestimmte Areale im Stirnhirn aktiviert werden, wenn sie von einem Einzelschicksal erfahren, dass die Reaktion aber verhalten ausfällt, wenn sie von etwas erfahren, das einer Gruppe zugestoßen ist. Das passiert uns unbewusst, das heißt, wir sind manipulierbar, wenn wir Empathie empfinden. Das heißt, dass wir dazu neigen, im Sinne einer einzelnen Person zu entscheiden, weil wir uns in sie hineinversetzt haben, dafür aber blind sind für die Bedürfnisse einer größeren Gruppe. Empathie führt also nicht zwingend zu Fairness. nd: Obwohl uns Empathie als unwillkürliche Reaktion auf Leid überfällt, sind wir in der Lage, sie Personengruppen zu verweigern. Weil wir sie als fremd empfinden oder gar abwerten. Die schlimmsten Gräueltaten sind auf diesen Mechanismus zurückzuführen. Veranschaulicht hat sich das, als im Februar Hunderttausende ukrainische Flüchtlinge an der polnischen Grenze willkommen geheißen wurden, während Grenzpolizis
Uten Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten einen Steinwurf entfernt an der polnischen Grenze zu Belarus brutal zurückdrängten und nicht wenige an Kälte, Hunger und Durst in den Wäldern starben. ass wir uns in andere hineinversetzen können, macht uns Menschen aus und ist unerlässlich für ein zivilisiertes Zusammenleben. Aber diese Fähigkeit ist nicht das Allheilmittel für unsere Probleme, wie uns der Empathie-Hype glauben machen will. Der Hype passt in unsere Zeit, in der politische Aufträge gerne auf das Individuum abgewälzt werden. Die Überbetonung der Empathie soll zu sozialem Handeln motivieren, dabei ist es Aufgabe der Politik, für ein verlässliches soziales Netz, ein Bildungssystem mit echter Chancengleichheit und einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen zu sorgen. Paul Bloom, Psychologe an der US-amerikanischen Yale University, plädiert in seinem Buch mit dem provokanten Titel „Against Empathy“, zu Deutsch „Gegen Empathie“, daher stattdessen für rationales Mitgefühl. Er beschreibt damit eine Haltung, die uns erlaubt, Hilfe zu leisten, dabei aber langfristige Konsequenzen, Kosten und die Auswirkungen auf Dritte mitzubedenken. Und wichtig: eine emotionale Distanz zu wahren.
Unsere Fähigkeit zur Empathie ist nicht das Allheilmittel für unsere Probleme.
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