Zwischen Folklore und Verklärung
Bundeskanzler Karl Nehammer und Verteidigungsministerin Klaudia Tanner sehen keinen Bedarf für eine neue Verteidigungspolitik. Sie wissen um die Beliebtheit des Status quo.
Ein Vorfall mit Symbolkraft: Bundespräsident Alexander Van der Bellen wollte morgen zum Staatsbesuch nach Finnland fahren. Doch der finnische Präsident Sauli Niinistö sagte kurzfristig ab. Er muss stattdessen dringend nach Washington, wo der geplante Nato-Beitritt Finnlands unter Dach und Fach gebracht werden soll.
Während die bisher „bündnisfreien“Staaten Schweden und Finnland ins atlantische Militärbündnis drängen, gibt es hierzulande keine derartige Ambition. „Österreich war neutral, ist neutral und bleibt neutral“, bekräftigte Bundeskanzler Karl Nehammer am Dienstag seine bekannte – und im Volk klar mehrheitsfähige – Haltung. Für unser Land stelle sich die Frage nicht, denn „wir haben eine andere Geschichte als Schweden und Finnland“.
In Wirklichkeit haben wir vor allem eine andere Geografie. Eine militärische Bedrohung aus dem Osten scheint vielen Bürgern trotz Ukraine-Krieg nicht unmittelbar wahrscheinlich. Es gibt wohl auch ein unausgesprochenes Kalkül: Wollte Russland nach Westen vorstoßen, müsste es zuerst die Nato-Staaten Polen, Tschechien und Slowakei angreifen.
Die Neutralität liege „im
Herzen der Österreicher“, meinte Verteidigungsministerin Klaudia Tanner gestern am Rande eines Treffens mit ihren EUAmtskollegen in Brüssel. Der neue Vorsitzende des EU-Militärausschusses, der Österreicher Robert Brieger, lässt freilich Vorbehalte durchblicken:
Das heimische Militär habe „gelernt, mit der Neutralität konstruktiv umzugehen und ungeachtet dieses völkerrechtlichen Status zahlreiche Partnerschaften und Kooperationen einzugehen“. Die Frage, ob Österreich seine Neutralität derzeit verteidigen könnte, beantwortete der Militärfachmann eher sphinxisch: „Mit einem Worst-Case-Szenario gibt es großen Nachholbedarf, in dem Bereich des Krisenmanagements leisten wir wertvolle Beiträge.“
Die Beliebtheit der Neutralität ist vor allem mit einem Blick in den geschichtlichen Rückspiegel erklärbar. Bisher sind wir mit dieser Doktrin immer gut gefahren, ohne das Bundesheer finanziell üppig ausstatten zu müssen. Nach der Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes 1955, das bekanntlich eine Gegenleistung für den Abzug der Besatzungsmächte war, gab es kaum verteidigungspolitische Debatten. Generationen von Schülern lernten, dass die Neutralität „immerwährend“sei. Im Kalten Krieg bis 1989 hatte das Konzept zudem eine bestechende Eindeutigkeit.
Die ging dann freilich rasch verloren. Seit dem Golfkrieg 1990, als US-Flugzeuge über österreichisches Gebiet zu Kriegseinsätzen flogen, stand die Politik in jeder Krise vor der Aufgabe, die alte Schablone flexibel weiterzuentwickeln. Politisch heiß begehrt waren immer Formeln, die es zuließen, den neutralen Status als solchen nicht anzutasten. Denn der zählte längst zum Inventar hergebrachter Gemütlichkeit.
Für die Konflikte im Irak, in Bosnien und im Kosovo erfand man die Variante „Solidarität geht vor Neutralität“: Wenn es ein Uno-Mandat für Einsätze gibt, dann darf auch das neutrale Österreich mitmachen. Im „Krieg gegen den Terror“nach 2001 gab es auch Überflüge ohne formelles Uno-Mandat. Der Ausweg: Es reiche, dass die UNO die Angriffe vom 11. September verurteilt hatte.
Österreichs EUBeitritt 1995 machten sich ÖVP und FPÖ kurzzeitig für einen Nato-Beitritt stark. Öffentlicher Gegenwind trieb diese Pläne auseinander, der Beitritt wurde für vereinbar mit der Neutralität erklärt. Der Vertrag über die gemeinsame EU-Verteidigungspolitik sieht zwar eine Beistandspflicht vor, doch Österreich, Irland, Schweden und Finnland nahmen damals (2009) die „irische Klausel“für sich in Anspruch: Sie ist eine Art „Sonderbefreiung“für die Bündnisfreien und Neutralen.
Unter dem Strich lässt sich kaum verhüllen, dass uns der Status quo zu einer Art blindem Passagier auf dem Nato-Tanker macht. Österreichs Verteidigungsausgaben sind zuletzt zwar gestiegen, mit 0,8 Prozent der Wirtschaftsleistung sind sie aber zu niedrig, um international als glaubwürdiger Verteidigungsbeitrag zu gelten.
Die Neutralität sei bei uns „zum vermeintlich unantastbaren Mythos erhoben“, kritisierten kürzlich Prominente in einem Offenen Brief. Einen klaren Hinweis, was an ihre Stelle treten soll, blieben sie freilich schuldig. Gefordert wurde nur eine „ernsthafte Diskussion“. Doch die Regierung scheint entschlossen, es so weit nicht kommen zu lassen.