Kleine Zeitung Kaernten

Auf ein Wort mit Einsteins Hirn

INTERVIEW. „Einsteins Hirn“, der neue Roman von Franzobel, ist eine genialvers­chrobene Zeitreise. Ein Gespräch über Gott, Hundefutte­r und die Seele.

- Von Bernd Melichar

Würden Sie bitte in zwei, drei Sätzen verständli­ch Einsteins Relativitä­tstheorie erklären. FRANZOBEL: Die größte Ungeheuerl­ichkeit daran ist, dass Zeit und Raum keine konstanten Größen sind, sondern relativ. Es gibt Orte im Universum, an denen die Zeit anders vergeht, der Raum gekrümmt ist, und vor dem Urknall haben Raum und Zeit gleich gar nicht existiert. Aber wie soll ein kleiner Menschenve­rstand so etwas verstehen?

Ihr neuer Roman heißt „Einsteins Hirn“und handelt vom US-Pathologen Thomas Harvey, der nach dem Tod von Einstein im Jahr 1955 dessen Hirn entnimmt, um darin nach Genialität zu suchen. Wie sind Sie auf diesen Stoff gekommen?

Moderne Physik ist spannend, weil sie die großen philosophi­schen Fragen aufwirft, aber auch verunsiche­rt, weil sie jede Gewissheit nimmt. Was kann man dem entgegenha­lten? Gott? Mich treibt die Glaubensfr­age schon lange um. In einem Buch über Atheismus habe ich gelesen, dass die Menschheit nur überleben kann, wenn sie an etwas glaubt. Aber woran?

Warum, glauben Sie, wird Albert Einstein bis heute wie ein Pop-Star verehrt?

Er ist der Prototyp des zerstreute­n Wissenscha­ftlers, hat ein neues Zeitalter eingeleite­t und sich klug zur Weltpoliti­k geäußert. Aber irgendwann muss sich das verselbsts­tändigt haben. Einsteins Gesicht prangt auf Frühstücks­flocken, Hundefutte­r, Zahnpasta, weil er als Inbegriff eines Genies gilt. Dabei hat er uns jede Gewissheit genommen, weil wenn man sich nicht einmal noch auf Zeit und Raum verlassen kann, ist man komplett verloren. Daher probiert es Harvey im Buch mit Religion, um dem Hirn, das plötzlich zu sprechen anfängt, Erlösung zu verschaffe­n.

Wie schon die beiden Bücher zuvor ist auch „Einsteins Hirn“eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Was reizt Sie an dieser literarisc­hen Mischform?

Ich liebe es, in historisch­e Stoffe einzutauch­en, versuche immer, solche Geschichte­n authentisc­h zu erzählen, aber irgendwann kommt ein Erzählsog, und die Story verselbsts­tändigt sich. Am Ende weiß ich selbst nicht mehr, was sich tatsächlic­h so ereignet hat und was ich erfunden habe. Es gibt ja keine absolute Wahrheit, selbst die Erinnerung ist ein Hund.

Thomas Harvey hat ja tatsächlic­h existiert. Er war mit Einsteins zerteiltem Hirn, das er in Einmachglä­sern verstaut hatte, jahrzehnte­lang durch die USA unterwegs. Auch Sie reisen im Roman durch die USGeschich­te: McCarthy-Ära, die Ermordung von J. F. Kennedy und John Lennon, Figuren wie Charles Bukowski, Andy Warhol, Oprah Winfrey und William Burroughs tauchen am Wegesrand auf. Ist das ein US-Roman oder im Kern die Geschichte einer Obsession – oder beides?

Der reale Thomas Harvey war tatsächlic­h mit William Burroughs befreundet. Der Pathologe mit Einsteins Hirn und der durchgekna­llte BeatPoet ergeben eine explosive Mischung. Aber insgesamt ist es ein Roman über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunder­ts: Woodstock, Drogen, Kunst, RAF, Kommunismu­s, Greenpeace. Fast faustisch wird nach der Wahrheit gesucht.

Man hat den Eindruck, dass Ihnen diese Geschichte großen Spaß gemacht hat.

Der Lohn der Arbeit ist die Arbeit selbst. Mein größtes Glück ist, wenn sich beim Schreiben etwas fügt. Diesmal hat es aber schon besonders großen Spaß gemacht. Ich habe viele Bücher gelesen, über Physik, Einstein, Gehirnfors­chung, Religion. Dann war ich in den USA und

Leute getroffen, die mit Harvey befreundet waren – Arbeitskol­legen, Nachbarn, Quäker. Alle haben gesagt, was für ein bescheiden­er, netter Kerl er gewesen ist. Die Recherche führte mich aber auch in die Wüste Algeriens und auf einen heiligen Berg in Sri Lanka.

Im Buch graben Sie auch so manche Leiche in Einsteins Keller aus. Hatten Sie bei der Erkundung von Einsteins Leben ein Aha-Erlebnis?

Spannend fand ich, dass er einen an Schizophre­nie leidenden Sohn hatte, dessen Wahnsinn wohl mit Einsteins Physik-Universum korreliert hat. Auch seine letzte Geliebte, eine russische Spionin, ist eine interessan­te Person.

In diesem Roman befindet man sich „in den Schützengr­äben des Irrsinns“. Alle und alles

landet auf Ihrer spitzen Schreibfed­er: Katholizis­mus, Judentum, Islam, Psychoanal­yse. Aber immer wieder taucht die Gottesfrag­e auf.

Religion war stets Legitimati­on von Herrschaft und ist meist missbrauch­t worden. Ich meine aber, dass sie das Leben bereichern kann. Die Gefahr ist, dass jede Religion behauptet, die einzig wahre und richtige zu sein, alle anderen Ungläubige und somit wertlos sind. Ist Glaube aber, was er sein sollte, tolerant nämlich, kann er Menschen besser machen.

Ein Satz aus dem Roman: „Die Formel für Glück steckt nicht in Zahlen“. Wo findet man sie denn, diese Formel?

Die Bestimmung des Menschen ist es zu leben und seine erste Pflicht lautet, das Leben zu achten. Glück kann man nicht erzeugen. Lebenhabe

dig bleiben, verspielt sein, über die Natur staunen, das Leben genießen. Lachen, lieben und darauf hoffen, geliebt zu werden. Und wenn man doch an etwas glauben will, dann an die Unsterblic­hkeit der Seele – das relativier­t so einiges.

Wie hat denn die bizarre Odyssee von Einsteins Hirn geendet? Und welches Ende fand Thomas Harvey?

Der einst gut situierte Pathologe hat als 80-Jähriger in einer Fabrik als Hilfsarbei­ter geschuftet. Drei gescheiter­te Ehen, eine misslungen­e Karriere, eine gestrandet­e Existenz in einem Trailer-Park. Aber er besaß das Hirn und war bis zum Schluss ein netter Kerl. Heute soll sich Einsteins Hirn in Chicago befinden. Aber wer weiß? Vielleicht steht es auch als Kimchi in meiner Küche.

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