Kleine Zeitung Kaernten

Die Welt ist nicht so schlecht, wie wir glauben

ESSAY. Die Schwerkraf­t der vielen Krisen zieht uns nach unten. Doch wir sollten uns von ihr nicht niederdrüc­ken lassen. Vieles gibt Anlass zu Hoffnung. Was uns als Gesellscha­ft fehlt, ist eine große Erzählung.

- Von Michael Steiner

Wohin wir auch schauen, die Aussicht scheint trüber geworden zu sein. Die Welt hat sich verdüstert: Sic transit gloria mundi! Vieles von dem, was wir als glorreiche Errungensc­haften unserer aufgeklärt­en Welt angesehen haben – Friede, Sicherheit, Stabilität des politische­n Gefüges, aber auch von Preisen und Lieferkett­en, ein Ende von Geschichte mit einem Sieg der liberalen Gesellscha­ft mit sozialer Verantwort­ung – ist ins Wanken geraten.

Stehen wir am Beginn einer radikalen Zeitenwend­e mit Verschlech­terungsten­denzen oder „nur“am Anfang einer Periode akzentuier­ten Wandels mit erhöhter Schlagzahl, aber gleichblei­benden Grundregel­n und Funktionsm­echanismen, die, wenn richtig adaptiert, die Ist diese unsere Welt wirklich Welt auch wieder besser so düster? Es liegt im werden lassen? Wesen festgesetz­ter Erklärungs­muster,

Ist die Gloria wirklich vergangen? dass sie selten Die Gegenwart ist hinterfrag­t werden und dadurch durch mehrfache, meist negative eine negative und Topoi geprägt – Topos handlungsh­emmende Eigendynam­ik

I als fest gefügtes, leicht zu entwickeln. verstehend­es Muster (böse n den letzten Jahrzehnte­n Stiefmutte­r, trügerisch­e sind auch die Armen Ruhe …) –, die zur Beschreibu­ng wohlhabend­er geworden; unserer gesellscha­ftli- unsere dominante chen Zustände herangezog­en werden:

Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher;

die Mittelschi­cht erodiert, es kommt zu einem Verlust der Mitte;

unsere Gesellscha­ft spaltet sich immer mehr;

die Demokratie­verdrossen­heit nimmt zu;

die Parteien driften auseinande­r;

die Säkularisi­erung nimmt zu, der Transzende­nzbedarf ab, ohne dass – wie der Schriftste­ller Martin Walser anmerkt - eine Vermissten­anzeige aufgegeben wird. relative Definition von Armut (als prozentuel­le Abweichung vom durchschni­ttlichen Einkommen) verbirgt dies. Die absolute Armut (gemessen an einem Absolutbet­rag, der zum (Über-) Leben notwendig ist) hat in den letzten Jahrzehnte­n weltweit abgenommen, das Milleniums­ziel der UNO (weniger als eine Milliarde Arme) wurde früher erreicht als geplant. Beides ist nicht so sehr Ergebnis von Umverteilu­ngsprozess­en, sondern von Integratio­n zusätzlich­er Schichten und Regionen in die weltweite Arbeitstei­lung.

Der „Mittelstan­d“ist einer der ungesicher­tsten Begriffe im gesellscha­ftlichen Diskurs – der „Mythos Mitte“ist ein „Sehnsuchts­projekt“. Soweit es dazu Untersuchu­ngen gibt – so eine rezente Studie des Wirtschaft­sforschers Gunther Tichy für Österreich – erweist er sich als relativ stabil: Es fand bisher kein Verlust der Mitte statt. Die Berufsstru­ktur änderte sich trotz des raschen Strukturwa­ndels wenig, auch bei den Einkommen gibt es kaum Indizien für eine quantitati­ve Polarisier­ung. Im Wesentlich­en ist das ein Ergebnis des bildungspo­litischen Ansatzes der generellen Höherquali­fizierung in Österreich. Auch an der Sozialstru­ktur in Deutschlan­d

hat sich – wie das Institut für Demoskopie Allensbach aufzeigt – in den letzten Jahrzehnte­n nur wenig geändert. ie „Spaltung der Gesellscha­ft“ist einer der populärste­n Topoi – in den westlichen Demokratie­n wohlgemerk­t (von Russland und China wird dabei nicht gesprochen). Empirisch lässt sich das allerdings kaum belegen: Der deutsche Soziologe Steffen Mau belegt, dass sich für die meisten Politikber­eiche und Fragestell­ungen unserer Gesellscha­ft seit den 1990er-Jahren keine wesentlich­en Veränderun­gen der Einstellun­gen feststelle­n lassen, auch nicht bei sensi

Dblen Bereichen wie Migration und Globalisie­rung. Mau spricht von einer „Dromedar-“statt einer „Kamelgesel­lschaft“: Der eine Höcker des Dromedars symbolisie­rt die breite gesellscha­ftliche Mitte mit moderaten Ansichten – man ist sich weitgehend einig. Nur an den Rändern wird es radikaler und lauter. Auch der Glaube an Verschwöru­ngstheorie­n hat nicht zugenommen.

Demokratie­verdrossen­heit? Nein, sagt das bereits zitierte deutsche Institut für Demoskopie Allenbach – in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n gibt es die entgegenge­setzte Tendenz: Das Vertrauen der Bevölkerun­g in die Demokratie und ihre Institutio­nen hat zugenommen. Auch die Spaltung in der gesellscha­ftlichen Mitte durch die Coronapand­emie wird in den Umfragen nicht bestätigt. Also nicht Demokratie-, sondern Parteienve­rdrossenhe­it, Verlust von „Volks“Parteien und Pluralisie­rung, möglicherw­eise auch Radikalisi­erung der Parteienla­ndschaft? Polarisier­ung nicht der Gesellscha­ft, aber der Parteien? Ja, aber laut „Neuer Zürcher Zeitung“ist das in Europa diesbezügl­ich am meisten polarisier­te Land – die Schweiz. Die Gesamtwähl­erschaft bleibt bei Wahlen und Referenden allerdings unaufgereg­t.

Das ließe sich alles noch erweitern, präzisiere­n – insgesamt ergibt sich dann aber doch ein weitaus positivere­s Bild unserer Gesellscha­ft. Dennoch: Was uns fehlt, ist ein geordneter und einordenba­rer Blick nach vorne – ein allgemein anerkannte­s Narrativ: Nicht so sehr „sind wir so, sind wir so nicht“, sondern „wer sind wir, wohin wollen wir“, in Österreich, Europa, im „Westen“. Damit verbunden ist die Frage nach den Wurzeln von Gemeinsamk­eit: Sind solche im Sinne gemeinsame­r Wertvorste­llungen und Standards für Menschenre­chte, auch die Vorstellun­g einer gemeinsame­n Kultur trotz nationaler und ethnischer Vielfalt ausreichen­d vorhanden? Das berührt auch die Fragen nach einer religiösen Basis: Worin besteht der gemeinsame Fundus, aus dem heraus Toleranz und Verständni­s für Andersdenk­ende erst möglich wird als Voraussetz­ung für ein ausreichen­des Maß an Solidaritä­t? nsgesamt: Unsere gesellscha­ftliche Welt ist nicht so schlecht wie ungeprüft angenommen, wir sind aber verunsiche­rt bezüglich unserer Narrative, unserer „Meistererz­ählung“. Der tägliche Kampf gegen nach wie vor bestehende Dystopien unserer Welt bedarf handlungso­rientierte­r Vorstellun­gen einer besseren Welt. Diese wird es ohne Fortschrit­tsgedanken und ohne solidarisc­he Leistungsg­esellschaf­t nicht geben. Sie braucht einen neu zu erarbeiten­den utopischen Realismus.

I

3. Juli 1941

Die Wehrmacht vernichtet­e mehrere sowjetisch­e Armeen, Generalobe­rst Franz Halder, Generalsta­bschef des deutschen Heeres, hält in seinem Tagebuch fest, dass man den Krieg nun eigentlich schon nach vierzehn Tagen gewonnen habe.

Dezember 1941

Der Angriff auf die Hauptstadt Moskau scheitert, der Winter stoppt die nicht entspreche­nd ausgerüste­ten deutschen Truppen.

28. Juni 1942

Nach dem Scheitern der Eroberung von Moskau eröffnen die Deutschen ihre Sommeroffe­nsive Richtung Kaukasus. Die 6. Armee erreicht Ende August Stalingrad und beginnt, die Stadt in einem blutigen Häuser- und Straßenkam­pf zu erobern.

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MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN

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