Die Welt ist nicht so schlecht, wie wir glauben
ESSAY. Die Schwerkraft der vielen Krisen zieht uns nach unten. Doch wir sollten uns von ihr nicht niederdrücken lassen. Vieles gibt Anlass zu Hoffnung. Was uns als Gesellschaft fehlt, ist eine große Erzählung.
Wohin wir auch schauen, die Aussicht scheint trüber geworden zu sein. Die Welt hat sich verdüstert: Sic transit gloria mundi! Vieles von dem, was wir als glorreiche Errungenschaften unserer aufgeklärten Welt angesehen haben – Friede, Sicherheit, Stabilität des politischen Gefüges, aber auch von Preisen und Lieferketten, ein Ende von Geschichte mit einem Sieg der liberalen Gesellschaft mit sozialer Verantwortung – ist ins Wanken geraten.
Stehen wir am Beginn einer radikalen Zeitenwende mit Verschlechterungstendenzen oder „nur“am Anfang einer Periode akzentuierten Wandels mit erhöhter Schlagzahl, aber gleichbleibenden Grundregeln und Funktionsmechanismen, die, wenn richtig adaptiert, die Ist diese unsere Welt wirklich Welt auch wieder besser so düster? Es liegt im werden lassen? Wesen festgesetzter Erklärungsmuster,
Ist die Gloria wirklich vergangen? dass sie selten Die Gegenwart ist hinterfragt werden und dadurch durch mehrfache, meist negative eine negative und Topoi geprägt – Topos handlungshemmende Eigendynamik
I als fest gefügtes, leicht zu entwickeln. verstehendes Muster (böse n den letzten Jahrzehnten Stiefmutter, trügerische sind auch die Armen Ruhe …) –, die zur Beschreibung wohlhabender geworden; unserer gesellschaftli- unsere dominante chen Zustände herangezogen werden:
Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher;
die Mittelschicht erodiert, es kommt zu einem Verlust der Mitte;
unsere Gesellschaft spaltet sich immer mehr;
die Demokratieverdrossenheit nimmt zu;
die Parteien driften auseinander;
die Säkularisierung nimmt zu, der Transzendenzbedarf ab, ohne dass – wie der Schriftsteller Martin Walser anmerkt - eine Vermisstenanzeige aufgegeben wird. relative Definition von Armut (als prozentuelle Abweichung vom durchschnittlichen Einkommen) verbirgt dies. Die absolute Armut (gemessen an einem Absolutbetrag, der zum (Über-) Leben notwendig ist) hat in den letzten Jahrzehnten weltweit abgenommen, das Milleniumsziel der UNO (weniger als eine Milliarde Arme) wurde früher erreicht als geplant. Beides ist nicht so sehr Ergebnis von Umverteilungsprozessen, sondern von Integration zusätzlicher Schichten und Regionen in die weltweite Arbeitsteilung.
Der „Mittelstand“ist einer der ungesichertsten Begriffe im gesellschaftlichen Diskurs – der „Mythos Mitte“ist ein „Sehnsuchtsprojekt“. Soweit es dazu Untersuchungen gibt – so eine rezente Studie des Wirtschaftsforschers Gunther Tichy für Österreich – erweist er sich als relativ stabil: Es fand bisher kein Verlust der Mitte statt. Die Berufsstruktur änderte sich trotz des raschen Strukturwandels wenig, auch bei den Einkommen gibt es kaum Indizien für eine quantitative Polarisierung. Im Wesentlichen ist das ein Ergebnis des bildungspolitischen Ansatzes der generellen Höherqualifizierung in Österreich. Auch an der Sozialstruktur in Deutschland
hat sich – wie das Institut für Demoskopie Allensbach aufzeigt – in den letzten Jahrzehnten nur wenig geändert. ie „Spaltung der Gesellschaft“ist einer der populärsten Topoi – in den westlichen Demokratien wohlgemerkt (von Russland und China wird dabei nicht gesprochen). Empirisch lässt sich das allerdings kaum belegen: Der deutsche Soziologe Steffen Mau belegt, dass sich für die meisten Politikbereiche und Fragestellungen unserer Gesellschaft seit den 1990er-Jahren keine wesentlichen Veränderungen der Einstellungen feststellen lassen, auch nicht bei sensi
Dblen Bereichen wie Migration und Globalisierung. Mau spricht von einer „Dromedar-“statt einer „Kamelgesellschaft“: Der eine Höcker des Dromedars symbolisiert die breite gesellschaftliche Mitte mit moderaten Ansichten – man ist sich weitgehend einig. Nur an den Rändern wird es radikaler und lauter. Auch der Glaube an Verschwörungstheorien hat nicht zugenommen.
Demokratieverdrossenheit? Nein, sagt das bereits zitierte deutsche Institut für Demoskopie Allenbach – in den vergangenen zwei Jahrzehnten gibt es die entgegengesetzte Tendenz: Das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie und ihre Institutionen hat zugenommen. Auch die Spaltung in der gesellschaftlichen Mitte durch die Coronapandemie wird in den Umfragen nicht bestätigt. Also nicht Demokratie-, sondern Parteienverdrossenheit, Verlust von „Volks“Parteien und Pluralisierung, möglicherweise auch Radikalisierung der Parteienlandschaft? Polarisierung nicht der Gesellschaft, aber der Parteien? Ja, aber laut „Neuer Zürcher Zeitung“ist das in Europa diesbezüglich am meisten polarisierte Land – die Schweiz. Die Gesamtwählerschaft bleibt bei Wahlen und Referenden allerdings unaufgeregt.
Das ließe sich alles noch erweitern, präzisieren – insgesamt ergibt sich dann aber doch ein weitaus positiveres Bild unserer Gesellschaft. Dennoch: Was uns fehlt, ist ein geordneter und einordenbarer Blick nach vorne – ein allgemein anerkanntes Narrativ: Nicht so sehr „sind wir so, sind wir so nicht“, sondern „wer sind wir, wohin wollen wir“, in Österreich, Europa, im „Westen“. Damit verbunden ist die Frage nach den Wurzeln von Gemeinsamkeit: Sind solche im Sinne gemeinsamer Wertvorstellungen und Standards für Menschenrechte, auch die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur trotz nationaler und ethnischer Vielfalt ausreichend vorhanden? Das berührt auch die Fragen nach einer religiösen Basis: Worin besteht der gemeinsame Fundus, aus dem heraus Toleranz und Verständnis für Andersdenkende erst möglich wird als Voraussetzung für ein ausreichendes Maß an Solidarität? nsgesamt: Unsere gesellschaftliche Welt ist nicht so schlecht wie ungeprüft angenommen, wir sind aber verunsichert bezüglich unserer Narrative, unserer „Meistererzählung“. Der tägliche Kampf gegen nach wie vor bestehende Dystopien unserer Welt bedarf handlungsorientierter Vorstellungen einer besseren Welt. Diese wird es ohne Fortschrittsgedanken und ohne solidarische Leistungsgesellschaft nicht geben. Sie braucht einen neu zu erarbeitenden utopischen Realismus.
I
3. Juli 1941
Die Wehrmacht vernichtete mehrere sowjetische Armeen, Generaloberst Franz Halder, Generalstabschef des deutschen Heeres, hält in seinem Tagebuch fest, dass man den Krieg nun eigentlich schon nach vierzehn Tagen gewonnen habe.
Dezember 1941
Der Angriff auf die Hauptstadt Moskau scheitert, der Winter stoppt die nicht entsprechend ausgerüsteten deutschen Truppen.
28. Juni 1942
Nach dem Scheitern der Eroberung von Moskau eröffnen die Deutschen ihre Sommeroffensive Richtung Kaukasus. Die 6. Armee erreicht Ende August Stalingrad und beginnt, die Stadt in einem blutigen Häuser- und Straßenkampf zu erobern.