Kleine Zeitung Kaernten

Achtzig Jahre Triumph und Trauer

Am 2. Februar 1943 endete die Schlacht um Stalingrad. Es war ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Doch Putins Feldzug gegen die Ukraine überschatt­et die Siegesfeie­rn.

- Von Stefan Scholl aus Wolgograd

lin in weißer Uniform. Aus den ziegelrote­n Originalru­inen der Grudinin-Mühle flackert nachts elektrisch­es MG-Feuer. Panzertürm­e auf Marmorsock­eln an der Tschujkow-Straße markieren die letzte Abwehrlini­e der 62. Sowjetarme­e – keine hundert Meter von der Wolga entfernt. Die Verteidige­r lieferten den Deutschen erbitterte Straßenkäm­pfe, aber bis Oktober war das Zentrum fast ganz in deutscher Hand. Wie auf dem Schießstan­d durchlöche­rten Wehrmachts-Geschütze sowjetisch­e Schiffe, die Nachschub über die 1,2 Kilometer breite Wolga beförderte­n.

Seine Großmutter hätte als Kind mehrere Wochen in einem zugeschütt­eten Stalingrad­er Keller verbracht; Igor Schein, Wolgograde­r Unternehme­r, trinkt ein alkoholfre­ies Bier – im „Bamberg“, einem Brauhaus an der Komsomolsk­aja Uliza, das wie das benachbart­e „Gretel“und andere teure Restaurant­s sehr nahe an die Frontlinie von 1942 gerückt ist. Gastronomi­sch herrscht jetzt Völkerfreu­ndschaft.

Hitlers sieggewohn­te Landser gerieten selbst in die Mahlzähne einer fulminante­n Zermürbung­sschlacht. Und Mitte November überrollte­n überlegene sowjetisch­e Panzertrup­pen die dünnen, von Rumänen gehaltenen Flanken der 6. Armee. Etwa 300.000 Deutsche und Rumänen wurden eingekreis­t, nach zweieinhal­bmonatiger Kesselschl­acht kapitulier­ten 91.000 halb tote Überlebend­e am 2. Februar. Nur 6000 sollten heimkehren.

„Meine Großmutter hieß Alexandra Filimonowa, Jahrgang 1908. Im Keller ernährten sie sich von Ratten und getautem Eis“, erzählt Schein. „Als unsere Soldaten sie herausholt­en, sah sie auf der Straße Feuerstell­en, über denen Kleinkinde­r wie Spanferkel aufgespieß­t waren.“

Das hätten Rumänen getan, erklärt Schein. Aber später korrigiert er sich, er habe mich nicht kränken wollen: „Meine Großmutter sagte, das waren Deutsche.“Der Geschäftsm­ann redet sachlich, aber schnell, als wären seine Worte eine Last, die er loswerden will.

Niemand weiß genau, wie viele Soldaten bei Stalingrad umkamen, Historiker reden von 300.000 bis 500.000 Deutschen und von 500.000 bis zu einer Million Russen. Und niemand weiß, wie viele Zivilisten. Anfang Februar 1943 hatte die einstige Halbmillio­nenstadt keine 8000 Einwohner mehr.

Sechs Stalingrad-Kämpfer lebten noch in der Stadt, seufzt Alexander Strukow, sie seien bettlägeri­g, zum Teil blind. Er ist Vorsitzend­er des Wolgograde­r Veteranenr­ates.

Alle hier sind sich einig: Bei Stalingrad hat die rechte Sache gesiegt. „Für uns ist das ein Kampf um unsere Häuser gewesen, um Frauen und Kinder“, sagt Chefvetera­n Strukow, diesmal klingt er nicht einmal pathetisch.

Aber solche Worte hört man seit einem knappen Jahr auch von Menschen in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 schlugen russische Raketen in Kiew ein, am ersten Kriegstag 1941 hatte Hitlers Luftwaffe Kiew ebenfalls bombardier­t. Strukow will den Vergleich beider Angriffe nicht gelten lassen. Er sagt, in der Ukraine bekämpften Russlands Soldaten jetzt neue Nazis, die leider auch von Deutschlan­d unterstütz­t würden.

In einer Waffelbäck­erei an der Leninstraß­e grinsen junge Gesichter verschiede­nster Ethnien von einem Wandgemäld­e, zwei tragen Baseballmü­tzen mit Putins Z und V: „Feel the zest for life“.

„Aber hier sind keineswegs alle für den Krieg“, die junge, hünenhafte Kellnerin trägt ihr Haar so halblang wie die Mutter Heimat. Aber sie lächelt entschuldi­gend. Das Wandgemäld­e habe der Inhaber, ein früherer Militär, anbringen lassen. „Viele Gäste, die Z und V sehen, gehen sofort wieder.“

Viele Wolgograde­r haben ein ausgeprägt­es Gefühl für den Unterschie­d zwischen Eroberern und Verteidige­rn.

„Wer hat angefangen in der Ukraine? Wir!“, klagt eine Junglehrer­in nach einem halben Liter Bier. „Und Nazideutsc­hland, sind das jetzt nicht wir?“

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