Achtzig Jahre Triumph und Trauer
Am 2. Februar 1943 endete die Schlacht um Stalingrad. Es war ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Doch Putins Feldzug gegen die Ukraine überschattet die Siegesfeiern.
lin in weißer Uniform. Aus den ziegelroten Originalruinen der Grudinin-Mühle flackert nachts elektrisches MG-Feuer. Panzertürme auf Marmorsockeln an der Tschujkow-Straße markieren die letzte Abwehrlinie der 62. Sowjetarmee – keine hundert Meter von der Wolga entfernt. Die Verteidiger lieferten den Deutschen erbitterte Straßenkämpfe, aber bis Oktober war das Zentrum fast ganz in deutscher Hand. Wie auf dem Schießstand durchlöcherten Wehrmachts-Geschütze sowjetische Schiffe, die Nachschub über die 1,2 Kilometer breite Wolga beförderten.
Seine Großmutter hätte als Kind mehrere Wochen in einem zugeschütteten Stalingrader Keller verbracht; Igor Schein, Wolgograder Unternehmer, trinkt ein alkoholfreies Bier – im „Bamberg“, einem Brauhaus an der Komsomolskaja Uliza, das wie das benachbarte „Gretel“und andere teure Restaurants sehr nahe an die Frontlinie von 1942 gerückt ist. Gastronomisch herrscht jetzt Völkerfreundschaft.
Hitlers sieggewohnte Landser gerieten selbst in die Mahlzähne einer fulminanten Zermürbungsschlacht. Und Mitte November überrollten überlegene sowjetische Panzertruppen die dünnen, von Rumänen gehaltenen Flanken der 6. Armee. Etwa 300.000 Deutsche und Rumänen wurden eingekreist, nach zweieinhalbmonatiger Kesselschlacht kapitulierten 91.000 halb tote Überlebende am 2. Februar. Nur 6000 sollten heimkehren.
„Meine Großmutter hieß Alexandra Filimonowa, Jahrgang 1908. Im Keller ernährten sie sich von Ratten und getautem Eis“, erzählt Schein. „Als unsere Soldaten sie herausholten, sah sie auf der Straße Feuerstellen, über denen Kleinkinder wie Spanferkel aufgespießt waren.“
Das hätten Rumänen getan, erklärt Schein. Aber später korrigiert er sich, er habe mich nicht kränken wollen: „Meine Großmutter sagte, das waren Deutsche.“Der Geschäftsmann redet sachlich, aber schnell, als wären seine Worte eine Last, die er loswerden will.
Niemand weiß genau, wie viele Soldaten bei Stalingrad umkamen, Historiker reden von 300.000 bis 500.000 Deutschen und von 500.000 bis zu einer Million Russen. Und niemand weiß, wie viele Zivilisten. Anfang Februar 1943 hatte die einstige Halbmillionenstadt keine 8000 Einwohner mehr.
Sechs Stalingrad-Kämpfer lebten noch in der Stadt, seufzt Alexander Strukow, sie seien bettlägerig, zum Teil blind. Er ist Vorsitzender des Wolgograder Veteranenrates.
Alle hier sind sich einig: Bei Stalingrad hat die rechte Sache gesiegt. „Für uns ist das ein Kampf um unsere Häuser gewesen, um Frauen und Kinder“, sagt Chefveteran Strukow, diesmal klingt er nicht einmal pathetisch.
Aber solche Worte hört man seit einem knappen Jahr auch von Menschen in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 schlugen russische Raketen in Kiew ein, am ersten Kriegstag 1941 hatte Hitlers Luftwaffe Kiew ebenfalls bombardiert. Strukow will den Vergleich beider Angriffe nicht gelten lassen. Er sagt, in der Ukraine bekämpften Russlands Soldaten jetzt neue Nazis, die leider auch von Deutschland unterstützt würden.
In einer Waffelbäckerei an der Leninstraße grinsen junge Gesichter verschiedenster Ethnien von einem Wandgemälde, zwei tragen Baseballmützen mit Putins Z und V: „Feel the zest for life“.
„Aber hier sind keineswegs alle für den Krieg“, die junge, hünenhafte Kellnerin trägt ihr Haar so halblang wie die Mutter Heimat. Aber sie lächelt entschuldigend. Das Wandgemälde habe der Inhaber, ein früherer Militär, anbringen lassen. „Viele Gäste, die Z und V sehen, gehen sofort wieder.“
Viele Wolgograder haben ein ausgeprägtes Gefühl für den Unterschied zwischen Eroberern und Verteidigern.
„Wer hat angefangen in der Ukraine? Wir!“, klagt eine Junglehrerin nach einem halben Liter Bier. „Und Nazideutschland, sind das jetzt nicht wir?“