Wo der wahre Schaden liegt
Die Rückzieher beim Lieferkettengesetz werfen einen langen Schatten abseits der eigentlichen Problemstellung. Die Vertrauensbasis innerhalb der EU wird geschädigt.
Das Zögern von Wirtschaftsminister Martin Kocher hat die Antwort, die er schließlich gab, bereits vorweggenommen. Österreich wird der deutschen FDP – nicht der Bundesregierung, hier sollte man Genauigkeit walten lassen – folgen und sich heute bei der finalen Abstimmung zum um- strittenen Lieferkettengesetz enthalten. Das kommt einem Nein gleich; möglicherweise folgt auch das eine oder andere weitere EU-Land diesem Pfad und das Gesetz wäre damit bis auf Weiteres Geschichte.
Über Für und Wider haben wir ausführlich berichtet, jede der beiden Seiten hat schlüssige Ar- gumente vorzuweisen. Argu- mente, die es seit Beginn der Verhandlungen schon gab. Das Gesetz, das menschenwürdige Arbeitsbedingungen in fernen Ländern ermöglichen und zum Umweltschutz beitragen soll, ist zwei Jahre lang verhandelt wor- den. Zwei Jahre, in denen der ge- samte Gesetzgebungsprozess der EU abgelaufen ist, vom Vor- schlag der Kommission über die Ausschussarbeit und Abstim- mung im EU-Parlament, die Be- fassung der Fachminister aus allen EU-Ländern bis zum ner
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venaufreibenden Trilog, an dem alle Beteiligten noch einmal an der Endfassung feilten und schließlich einen Kompromiss erzielten.
Alle konnten sich einbringen, auch Deutschland und Österreich. Alle hatten Gelegenheit, am Kompromiss mitzuwirken. In der Tat wurde der ursprüng- liche Vorschlag in wesentlichen Punkten abgeschwächt. Wenn man sich schließlich einigt, wä- re das das Ende der Geschichte.
Ist es aber nicht. Zum zweiten Mal nach der unerwarteten Blo- ckade in Sachen Verbrennermo- tor grätscht die deutsche FDP, in beiden Fällen unterstützt durch das offizielle Österreich, in den langjährigen Ablauf und stößt damit nicht nur große Teile der Zivilgesellschaft und der Indus- trie (es gibt zwar viel Kritik, aber auch viel Zustimmung zum Ge- setz), sondern auch die anderen EU-Länder vor den Kopf. Der Entscheidungsprozess braucht auch Vertrauen und Handschlagqualität, das ist eine der Grundlagen der EU. Wenn Regierungen aus dem Nichts heraus nach dem Ende der Verhandlungen ihre Meinung ändern, dann desavouieren sie damit ihre eigenen Unterhändler (Abgeordnete, Beamte, Botschafter, Minister) aufs Gröbste und erschüttern die Vertrauensbasis innerhalb der Staatengemeinschaft.
Wenn Unterschriften nicht mehr gelten, Zusagen ihre Kraft verlieren und plötzliche Schwenks von einem Tag auf den anderen alles ändern, dann geht das in eine bedenkliche Richtung. Das gilt übrigens auch für die Klimaziele, wo zuletzt die strengen Vorgaben der EU-Kommission auf Ablehnung stießen. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen ebenso wie die Wirtschaft gerade in schwierigen und damit unpopulären Bereichen Planungssicherheit und müssen wissen, was sie erwartet. Wenn man selber schlecht verhandelt hat, sollte man das noch während des Entscheidungsprozesses korrigieren – und nicht dann, wenn dieser mit Brief und Siegel bereits beendet ist.