Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
Allen Krisen zum Trotz ist ein Neuanfang möglich. Der Weg dorthin führt über das Staunen und das Eingeständnis, aufeinander angewiesen zu sein.
as Stadttheater Klagenfurt eröffnete im Herbst 2023 die Spielsaison mit Richard Wagners „Götterdämmerung“. Dieses Weltuntergangsdrama mag wie eine punktgenaue Analyse des Zustands der Menschheit im 21. Jahrhundert erscheinen. Als Draufgabe gibt es jetzt in Klagenfurt mit Salvatore Sciarrinos Oper „Il canto s’attrista, perché?“eine weitere Endzeitparabel. „Der Gesang wird traurig, warum?“, fragt der Titel und liefert die Antwort mit Krieg, Intrige, Mord und Totschlag. Agamemnon kehrt nach zehn Kriegsjahren in Begleitung seiner Geliebten, der trojanischen Seherin Kassandra, nach Mykene zurück, wo sie von seiner Frau Klytämnes- tra und deren Geliebten Ägisth ermordet werden.
Ist diese Welt noch zu retten? Außerhalb des Theaters blicken wir in den nächsten Monaten gebannt auf in mehr als 60 Ländern stattfindende Wahlen mit mehr als vier Milli- arden Stimmberechtigten. Die Medien erwarten das bisher größte demokratische Spektakel in der Geschichte der Menschheit. Gut möglich, dass dadurch in politischen Landschaften kein Stein auf dem anderen bleibt.
DSchon Kassandra hatte die Trojaner vergeblich gewarnt: „Ich spreche Griechisch wie ihr alle, aber ihr versteht mich nicht“. Auch Sigmund Freud wusste sich in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“weder von den „wildesten Revolutionären“noch von den „bravsten Frommgläubigen“verstanden; sie alle hielt er dazu fähig, sich gegenseitig umzubringen, „einander bis auf den letzten Mann auszurotten“. Sie wären, meinte der Vater der Psychoanalyse, auf die großen Herausforderungen so gut vorbereitet wie Leute, die zu einer Polarexpedition aufbrechen und als einzige Ausrüstung nur Sommerkleider und Landkarten der oberitalienischen Seen mithätten.
Aber aussichtslos ist die
Lage deshalb noch lange nicht. Wie sich bei Wagner aus dem musikalischen Zusammenbruch nach und nach eine große Liebesmelodie als neuer Anfang herausschält, könnten ja auch, was die Perspektiven unserer Welt betrifft, trotz allem und vielleicht gerade jetzt erst recht, Neuanfänge möglich sein!? ege dazu gibt es viele, einer davon führt über das Theater; seine Aufgabe bestünde nämlich darin, so Aron Stiehl, der Intendant des Stadttheaters Klagenfurt, an der „Wiederverzauberung der Welt“zu arbeiten; freilich nicht dadurch, die Menschen in eine Traumwelt zu entführen, die nichts mit der Realität zu tun hat, sondern dadurch, sie trotz der Oberflächlichkeit des profanen Alltags etwas vom Zauber und Geheimnis des Lebens ahnen zu lassen.
WIn diesem Zusammenhang muss ich an eine Begegnung in meiner Zeit als Seelsorger im Kärntner Görtschitztal denken. An einem Freitagabend klingel- te das Telefon. Claus Peymann, der Direktor des „Berliner Ensembles“und vormaliger Direk- tor des Wiener Burgtheaters, erkundigte sich nach den „Beginnzeiten meiner Vorstellungen“und kündigte für den kommenden Sonntag seine Teilnahme am Gottesdienst in der Pfarrkirche in Klein St. Paul an. Um einem Theatermann zu zeigen, was ein Pfarrer kann, bereitete ich mich viel zu gründlich, als hätte ich nur für ihn allein zu predigen, auf meine Kanzelrede vor. Peymann kam dann tatsächlich nach dem Gottesdienst in die Sakristei und bedankte sich mit einem Satz, der bis heute nachklingt: „Was ich hier erlebt habe, kriege ich als Theaterdirektor auf keine Bühne!“eim gemeinsamen Mittagessen dann erklärte er mir ausgehend von Aischylos, Sophokles und Euripides, den ältesten großen Dichtern der griechischen Tra
B
Was wird am Aschermittwoch gefeiert?
markiert im abendländischen Christentum das Ende des Faschings und den Beginn der 40-tägigen Fastenzeit.
mit dem Katholiken heute in Gottesdiensten gekennzeichnet werden, steht für Vergänglichkeit, Trauer und Buße gödie, bis zu den Streitfragen des modernen Regietheaters, worauf sich sein Lob nach der „Vorstellung“bezogen hatte. Nicht meine Predigt hatte ihn beeindruckt, auch nicht der an diesem Tag besonders eifrig vorgetragene liturgische Gesang, nicht der beim Gottesdienst reichlich verwendete Weihrauch, auch das festliche Geläute der Kirchenglocken nicht; Peymanns ganze Aufmerksamkeit hatte dem Moment der Wandlung gegolten, jenem stillen Augenblick, in dem der Pfarrer eine kleine und ist Zeichen der Hoffnung auf Auferstehung. Die Asche stammt von den verbrannten Palmzweigen des Vorjahres.
auf der Synode von Benevent wurde beschlossen, die Fastenzeit von 46 auf 40 Tage zu verkürzen. Im Mittelalter herrschten
Scheibe ungesäuerten Brotes über dem Altar erhebt; dieser Wimpernschlag völliger Stille hatte den Theaterprofi berührt.
Das liegt jetzt schon 25 Jahre zurück. Nie zuvor ist mir deutli- cher bewusst geworden, dass „Wandlung“mehr sein muss als „Hokuspokus“, diese Verballhornung der lateinischen Worte „hoc est corpus meum“, die der Priester über das Brot spricht, mehr als ein Zauberspruch, den keiner versteht. Wandlung vollzieht sich erst dort, wo jemand ergriffen wird, ohne dabei begreifen zu müssen,
Lstrenge Fastenregeln. Erst 1486 hob Papst Innozenz VIII. das Verbot von Milchprodukten auf.
hat die katholische Kirche die kirchliche Bußpraxis gelockert. Seitdem gibt es in der katholischen Kirche zwei strenge Fastentage: Aschermittwoch und Karfreitag.
Um 1960
warum ihm das, was da geschieht, „unter die Haut“geht. Wandlung als Verwandlung ereignet sich im Theater, in der Kirche, bei Festen; wo immer sie geschieht, müssen/ wollen Menschen nachher davon erzählen. „Sehr schön, aber leider nicht von mir“, soll Johannes Brahms einmal im Blick auf die Partitur eines Kollegen bewundernd ausgerufen haben. Dieser Moment des Staunens ist die schönste Form menschlicher Grenzerfahrung, weil er Staunenden dabei auch einen Hauch von Ahnung vermittelt, was mit Transzendenz gemeint sein könnte. Nie steht ein Mensch weniger in der Versuchung, sich mit Gott zu verwechseln als in solchen Momenten. Kein Wunder, dass Tyrannen und andere Menschenfeinde nicht staunen können; ihre Welt, in der Verzauberung nicht stattfindet oder höchstens Verblendung bedeutet, kennt keine Höhepunkte, außer die absurde Sorge des Diktators, von möglichst allen angehimmelt, bewundert und bestaunt zu werden. ouise Glück (†2023), die US-amerikanische Lyrikerin, erhielt 2020 den Nobelpreis für Literatur für ihre „unverwechselbare poetische Stimme“, mit der sie sich in ihren Gedichten nicht an die „Welteroberer“wendet, die sich als „Glücksritter“im Äußeren verlieren. Sie will mit ihrer
Lyrik die „Glückspilze“, die „Welterfinder“dazu ermutigen, das Glück des Lebens zuallererst in ihrem Inneren zu suchen und gemeinsam mit anderen nach Möglichkeiten gelungenen Lebens Ausschau zu halten. Dadurch könnten sie auf der Suche bleiben, sich aneinander freuen, sich aber auch aneinander reiben und sich immer wieder übereinander wundern.
Daraus ergäbe sich „wie von selbst“im Blick nach vorne das Eingeständnis, aufeinander angewiesen zu sein, im Blick zurück der Dank dafür, und im Blick auf das, was möglich geworden ist, ein großes Staunen darüber. Dieses Staunen erst liefert den Brennstoff der Begeisterung, die aus dem Alltag ein Fest, aus der Reprise die Premiere und aus der Langweile das Erlebnis zaubert. Erst dadurch zeigt sich, dass in unser aller Leben eine Kraft am Werk ist, die nichts mit unserer Tüchtigkeit zu tun hat.
„Was hast du denn“, fragt Paulus im Brief an die Korinther (1 Kor 4,7), „das dir nicht geschenkt worden wäre? Wenn es dir aber geschenkt worden ist, warum tust du dann so, als wäre es dir nicht geschenkt worden?“er sich Asche aufs Haupt streut, erinnert sich seiner letzten, ihm definitiv gesetzten Grenze. Vielleicht wird auch darin noch ein Lied erklingen, auf das Ingeborg Bachmann im letzten ihrer „Lieder auf der Flucht“zu hoffen wagt:
„Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, / die
Zeit und die Zeit danach. / Wir haben keinen. / Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. / Doch das Lied überm Staub danach wird uns übersteigen.“
Wlebt als Theologe und Psychotherapeut in Wien und in Kärnten.