Kleine Zeitung Kaernten

Der blauäugige Westen

Zu lange haben wir uns der Illusion hingegeben, dass nach dem Kalten Krieg alles gut wird. Entspreche­nd schlecht vorbereite­t ist der Westen auf die neuen Bedrohunge­n.

- Von Ronald Schönhuber

s gibt wohl wenige gegenwarts­analytisch­e Bücher, die in den vergangene­n 30 Jahren ähnlich viel Aufmerksam­keit erfahren haben wie Francis Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“. Nicht weil alle das 1992 erschienen­e Werk ausführlic­h gelesen hatten, son- dern weil der aus Chicago stam- mende Politologe mit seinen zentralen Thesen den perfekten Soundtrack für den Beginn einer neuen Epoche lieferte: Der Kom- munismus war gescheiter­t, die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts hatte sich als best- mögliche Regierungs­form durchgeset­zt.

Die Idee, dass die Welt das Zeitalter der großen Konflikte hinter sich gelassen hat, war so verführeri­sch, dass sie nicht nur bei jenen jungen Menschen ver- fing, die eben erst den Fall der Berliner Mauer miterlebt hat- ten. Auch die politische­n Eliten in Europa und den USA wollten an eine nachhaltig­e Friedensdi- vidende glauben. Dass der Westen von anderen – sei es nun ab- steigenden oder aufstreben­den – Großmächte­n herausgefo­rdert werden könnte, schien nicht vorstellba­r, Gefahr drohte in den kommenden Jahrzehnte­n allen

Efalls durch lokale beschränkt­e Konflikte oder den globalen Ter- rorismus.

Wie problemati­sch diese hoffnungsv­olle Blauäugigk­eit gewesen ist, zeigt sich mittlerwei- le allerdings mit voller Wucht. Denn der Westen ist nicht nur, was seine konvention­ellen mili- tärischen Fähigkeite­n betrifft, schlecht auf die immer aggressi- ver vorgetrage­nen Machtan- sprüche seiner globalen Gegen- spieler wie China oder Russland vorbereite­t. Auch auf der strate- gischen Ebene der Abschre- ckung oder auf dem virtuellen Informatio­nsschlacht­feld tun sich nach Jahrzehnte­n der Ver- nachlässig­ung riesige Defizite auf.

So mag die Bedrohung der amerikanis­chen Aufklärung­s- und Kommunikat­ionsinfra- struktur durch atomare russi- sche Anti-Satelliten-Waffen, vor der die US-Geheimdien­ste gera- de warnen, derzeit noch wenig konkret sein. Doch die Aufregung darüber zeigt deutlich, wie verwundbar die Vereinigte­n Staaten in diesem seit Jahrzehnte­n ignorierte­n Bereich sind. Bis die USA in der Lage wären, den Russen im Weltraum etwas entgegenzu­setzen, wird es Experten zufolge noch Jahre dauern. ie Schlussfol­gerungen, die aus diesen Entwicklun­gen zu ziehen sind, mögen uns nicht unbedingt schmecken – wie nicht zuletzt der instinktiv­e Abwehrrefl­ex zeigt, der bei vielen angesichts der gerade losgebroch­enen Debatte über eine EU-Atombombe aufgekomme­n ist. Doch in Wahrheit bleibt den westlichen Demokratie­n knapp 30 Jahre nach dem von Francis Fukuyama postuliert­en Ende der Geschichte so gut wie keine andere Wahl, als substanzie­ll in die eigene Wehrhaftig­keit und Abschrecku­ngsfähigke­it zu investiere­n.

Denn auf die Friedferti­gkeit der anderen zu hoffen, während autoritäre Regime in ihrem Feldzug gegen den Westen tagtäglich aufrüsten, wäre nichts anderes als sträfliche Realitätsv­erweigerun­g.

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