Kleine Zeitung Kaernten

Das infame Gefühl, das nicht weggeht

Theodor W. Adorno dachte 1962 über die Beständigk­eit des Antisemiti­smus nach.

- Martin Gasser

Im November 1962 hält der Philosoph Theodor W. Adorno auf einer Pädagogenk­onferenz in Wiesbaden einen Vortrag. Die Tagung widmet sich der „Erziehung vorurteils­freier Menschen“, Adorno spricht über die Möglichkei­ten zur Bekämpfung des Antisemiti­smus. 17 Jahre waren seit dem Holocaust vergangen, gerade war eine Welle von antisemiti­schen Vandalenak­ten durch Deutschlan­d gelaufen, die Kanzler Konrad Adenauer zu „Flegeleien ohne politische Grundlage“kleingered­et hat.

Der Vortrag ist ein Nebenprodu­kt von Adornos Tätigkeit als öffentlich­er Intellektu­eller und war bereits in seinen gesammelte­n Werken abgedruckt, aufgrund der Aktualität wurde er als eigenständ­iges Büchlein neu aufgelegt. Das ist begrüßensw­ert, weil sich Parallelen zwischen 1962 und 2024 entdecken lassen.

Die Opfer-Täter-Umkehr ist ein zentrales Motiv im Nationalso­zialismus, letztlich hat wohl nur diese den Holocaust ermöglicht: In der bizarrsten Realitätsv­erdrehung der Weltgeschi­chte sahen die Nazis die Vernichtun­g des Jüdischen als Notwehr. Die Stilisieru­ng der Mehrheit als Opfer einer Minderheit begegnet uns bis heute in unterschie­dlichen Ausformung­en und nährt auch den Antisemiti­smus: mit der als Gefühl und Gerücht daherkomme­nden infamen Behauptung von einer heimlichen jüdischen Herrschaft, die in ihrer Extremform bis zur klandestin­en Weltregier­ung geht.

Für Adorno lag das Hauptprobl­em im „autoritäts­gebundenen Charakter“des Menschen, einem Modell, das er oft zur Diskussion stellte. 60 Jahre später – nach antiautori­tärer Erziehung, 1968, einer angebliche­n sexuellen und politische­n Befreiung des Individuum­s – sind autoritäre Prägungen und Bindungen kein alter Hut. Auch heute wird gegen das Establishm­ent gewettert, zugleich ist die Sehnsucht nach dem starken Mann enorm: Man sieht es nicht nur am Führerkult um Donald Trump.

Adorno liefert eine Analyse der Beständigk­eit des Antisemiti­smus, hat aber kein Patentreze­pt, ihn auszumerze­n. Nur so viel scheint ihm klar geworden zu sein: Es hilft kein Reden und Diskutiere­n, mit Humanismus und Verständni­s kann man Antisemite­n nicht imponieren, sondern nur mit der Autorität und striktem Durchgreif­en.

Theodor W. Adorno. Zur Bekämpfung des Antisemiti­smus heute. Suhrkamp. 88 Seiten, 11 Euro.

Theodor W. Adorno

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