Der Pöbel und die Haltung
Tempodiktat, Meinungsdruck und Faktenveruntreuung via Social Media treiben gesellschaftliche Kommunikation an einen Wendepunkt. Die Basis der Demokratie schwindet.
Die Welt ist aus den Fugen.“So zitierte Angela Merkel 2016 den „Hamlet“. Deutschlands Kanzlerin stand unter dem Schock der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Shakespeare hatte 1600 aber geschrieben: „Die Zeit ist aus den Fugen.“Das beschert der Welt Aufschub. Merkel blieb bis 2021, länger als Trump. Doch er tritt heuer wieder an – ein Indiz, dass die Galgenfrist der Nachkriegsära im Countdowntempo abläuft. Das Verhältnis von Politik, Medien und Social Media ist aus den Fugen. Öffentlichkeit funktioniert nicht mehr. Die Grundlage von Demokratie schwindet.
Die katastrophalen Folgen lassen sich am jüngsten Beispiel einer digital bis in die totale Verzweiflung gejagten Journalistin als grausige Chronik nachverfolgen. Doch sogar berechtigte Schuldzuweisungen im Anlassfall greifen zu kurz, wenn sie zunehmend dem Rechts-links-Vorwurfschema unterliegen. Der ideologisch getriebene Kampf um Diskurshoheit verdeckt tiefer liegende operative Konflikte bei der Nutzung von Social Media: Einerseits maximieren Politik- und Mediengrößen ihre Reichweite und Meinungsstärke. Sie fügen institutionell geliehener Macht ausgerechnet mit deren Hilfe Ich-Geltung hinzu, die zugleich Unabhängigkeit von der eigenen Organisation fördert. Das hat Donald Trump vor- und Sebastian Kurz ebenfalls schon 2016 so gemacht, gilt aber auch für viele ORF-Aushängeschilder und konkurrierende Journalisten von Privatsendern und Zeitungen mit großen Followerzahlen auf Facebook, Instagram, TikTok und X, vormals Twitter.
Andererseits stoßen diese Stars in den digitalen Netzen auf eine überwiegende Mehrheit von Personen, die früher weniger oder kein allgemeines Gehör fanden und von denen eine enorme Majorität die neue Informations-, Kommunikationsund Artikulationsmöglichkeit verantwortungsvoll verwendet – sowohl unter wahrem Namen wie anonym.
Doch Politikprofis und Medienmacher haben es verabsäumt, ihre angestammten Regeln hinreichend den DebattenDebütanten zu vermitteln. Im
Gegenteil: Social Media legte offen, wie viele Mandatare und Journalisten ihren Wertekosmos verlassen, wenn es um persönlichen Vorteil geht. Den Schlüssel zur Publikumsmaximierung lieferte die Politik mit gnadenloser Polarisierung. Die zynische Zeitungsregel „Only bad News are good News“findet auf Social Media Echtzeitbestätigung: Konflikt bringt Kundschaft. Die fatale Nebenwirkung konnten Journalisten bei der Politik beobachten, haben sie aber als Kollateralschaden akzeptiert. Die Medien-Glaubwürdigkeit war in den USA im Trump-Herbst
2016 auf den Tiefpunkt gesunken.
2023 vertraute nur noch ein Zehntel der republikanischen, aber 58 Prozent der demokratischen Anhänger den Nachrichten von Zeitungen, Radio und Fernsehen. edien unterliegen wie Parteien in ihrer organisatorischen Positionierung der Personalisierung. Social Media sind Turbos dieser Selbstvermarktung. Mit ihnen geriet die von Colin Crouch
M
schon vor 20 Jahren befürchtete Postdemokratie im Vorrang der Kommunikation gegenüber den Inhalten auf den Zenit. Das war keine Alleinschuld der Volksvertreter, sondern brauchte Vermittler: Neben Streit als Garant für Publizität erzeugt „HorseRace-Journalism“in politischer Berichterstattung ein Zerrbild dessen, worum es für das Gemeinwesen geht. 2023 wurden 80 Sonntagsfrage-Resultate zur Nationalratswahl publik. Sie und nicht Journalismus bestimmen das öffentliche Stimmungsbild. Wie Rankings stärken sie eher Marketing als Qualität betroffener Institutionen. Parallel dazu wurde der Kommentarbereich in herkömmlichen Medien bedeutender – aufgrund ihrer Funktionsänderung in Richtung Einordnung und Orientierung. Doch der Ausbau einer ebenfalls wichtiger gewordenen Bildungs- und Erklärungsfunktion konnte aus finanziellen Gründen nicht mithalten. Der Abfluss von Werbeausgaben zu Social Media gilt als Hauptursache für die materielle Medienkrise. Investitionen in Redaktionen sind der größte Kostenfaktor. Die Politik hat verabsäumt, Social Media zur Inhaltsverantwortung wie herkömmliche Medien zu verpflichten. Gäbe es sie, wäre das Geschäftsmodell von Facebook, X und TikTok tot. Wirkliche Content-Moderation ist sündteuer. n dieser Gemengelage aus immer mehr Meinung, ständig weniger Wissen, mangelnder Regulierung und unbarmherzigem Tempodiktat war freiwillige Selbstkontrolle
Iein zu lange währender Lernprozess. Während auch verantwortungsvolle Profis sich erst gemächlich zu konfliktmindernder Zurückhaltung durchringen, ermöglicht das außer sich geratene Kommunikationsbiotop den Aufstieg vor allem weit rechts stehender Boulevardplattformen wie „Exxpress“und „Nius“. Hierzulande mit staatlicher Medienförderung. Eine seltsame Nebenschiene zu Aktivitäten der Parteien, die nach Kurz‘ Facebook-Wettlauf mit Heinz-Christian Strache und neben „FPÖ TV“auf YouTube die digitale Auferstehung einstiger Organe zelebrieren – vom roten „Kontrast“bis zur-sache.at der ÖVP.
Angesichts solch umfassender Owned-Media-Strategien im Sog jener Politik, der klassische
Sender und Blätter per Geringschätzung bis Missachtung begegneten, übte sich der Journalismus zu sehr in Haltung statt Anderssein. Das lässt wie in den USA noch mehr Publikum aus herkömmlichen Medien abwandern, das sich dort nicht vertreten fühlt – aber nun vermeintliche Alternativen hat. Es ist nicht bloß der Pöbel, der von Parteien noch zu stark als Zielgruppe wahrgenommen wird. Auch immer mehr Schriftgelehrte biegen gesinnungsgeleitet zu handwerklich ständig besseren Fake-News-Schleudern ab. Der Journalismus macht unterdessen viel zu selten den Unterschied klar. Er erklärt sich nicht ausreichend, ist intransparent, wenig kritikfähig und ein Lehrling der Fehlerkultur. Gegen diese Rahmenbedingungen ist mit europäischen und staatlichen Regulierungen nur wenig Kraut gewachsen. Es reicht nicht aus für eine funktionierende Öffentlichkeit, das zentrale
Element
Demokratie. Sie benötigt neben
Transparenz und
Beteiligung, Verpflichtungen und
Verboten auch gesellschaftliche Übereinkunft und Vorbilder. Es braucht gemeinsame Ächtung der Regelbrecher durch eine nicht mehr schweigende Mehrheit. Für Medien bedeutet das neben ihrer Forderung nach Bändigung der Plattformen durch die Politik auch manch mitunter schmerzvollen Rückzug. ürden in Österreich schlagartig nur die jeweils zehn Politiker und Journalisten mit den meisten Verfolgern von X zu einer anderen Plattform wechseln, wäre das Kommunikationsspielzeug von Elon Musk hier umgehend irrelevant. Das wird nicht geschehen, weil sie zu viel in ihre einstigen Twitter-Auftritte investiert haben und es noch kein gleichwertiges Netzwerk gibt. Doch im globalen Superwahljahr 2024 benötigt nicht nur Österreichs Gesellschaft dramatische Veränderungen auf und gegenüber Social Media. Ansonsten wird spätestens zu Herbstende klar, dass Angela Merkel 2016 einen Fehlgriff tat, als sie „Die Welt ist aus den Fugen“sagte. Passender ist schon heute ein noch drastischeres Zitat von „Hamlet“: Es geht um „Sein oder Nichtsein“der Demokratie.
ist Politikanalyst und Medienberater.
Wder
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Erster Teil der Provinzkrimi-Satire rund um den bayrischen Dorfpolizisten Franz Eberhofer (Sebastian Bezzel). Spezl Rudi (Simon Schwarz) ist auch schon mit von der Partie. Gemeinsam gilt es, den Tod eines Schulleiters aufzuklären. Die Filmadaptionen der Rita-Falk-Bücher sind längst Kult – ebenso wie die schwerhörige Oma und der dauerkiffende Papa. Der Auftakt der Serie ist besonders skurril geraten, der trockene Humor zündet großartig.
20.15 Uhr, ORF 1
Schmerzhafte Verfilmung einer Buchvorlage von Jerzy Kosinksi. Ein sechsjähriger Bub wird im Zweiten Weltkrieg Opfer von unfassbaren Gräueltaten. 23.15 Uhr, 3sat
Schräg-anarchischer Kultfilm von Michael Glawogger mit Georg Friedrich als exzentrischem Kleinganoven und Michael Ostrowski als Dummy vom Dienst. Die Loser aus „Nacktschnecken“stolpern hier ins Drogenmilieu, und natürlich läuft alles völlig aus dem Ruder. 23.50 Uhr, ORF 1
Charmanter Spaß mit Owen Wilson und Vince Vaughn als Scheidungsanwälte, die auf Hochzeitsfeiern Single-Damen abschleppen. 22.30 Uhr, RTL zwei
Le week-end. Ö 1, 13 Uhr. „Verehrter Herr Kraus, sehr geehrter Herr Schönberg“. Der Briefwechsel von zwei Wiener Geistesgiganten: Arnold Schönberg und Karl Kraus – beide wurden vor 150 Jahren geboren. Schönbergs Uraufführungsskandale nahmen in den Briefen, die Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden, ebenso Platz ein wie die Aktivitäten von Kraus in der „Fackel“. Betrifft: Geschichte. Ö 1, 15.55 Uhr. So starb die Demokratie, so starb ein Land. Ein Gespräch mit Historikerinnen und Historikern zu den Februarkämpfen 1934 in Österreich vor 90 Jahren.