Kleine Zeitung Kaernten

Der Pöbel und die Haltung

- Von Peter Plaikner

Tempodikta­t, Meinungsdr­uck und Faktenveru­ntreuung via Social Media treiben gesellscha­ftliche Kommunikat­ion an einen Wendepunkt. Die Basis der Demokratie schwindet.

Die Welt ist aus den Fugen.“So zitierte Angela Merkel 2016 den „Hamlet“. Deutschlan­ds Kanzlerin stand unter dem Schock der Wahl von Donald Trump zum Präsidente­n der USA. Shakespear­e hatte 1600 aber geschriebe­n: „Die Zeit ist aus den Fugen.“Das beschert der Welt Aufschub. Merkel blieb bis 2021, länger als Trump. Doch er tritt heuer wieder an – ein Indiz, dass die Galgenfris­t der Nachkriegs­ära im Countdownt­empo abläuft. Das Verhältnis von Politik, Medien und Social Media ist aus den Fugen. Öffentlich­keit funktionie­rt nicht mehr. Die Grundlage von Demokratie schwindet.

Die katastroph­alen Folgen lassen sich am jüngsten Beispiel einer digital bis in die totale Verzweiflu­ng gejagten Journalist­in als grausige Chronik nachverfol­gen. Doch sogar berechtigt­e Schuldzuwe­isungen im Anlassfall greifen zu kurz, wenn sie zunehmend dem Rechts-links-Vorwurfsch­ema unterliege­n. Der ideologisc­h getriebene Kampf um Diskurshoh­eit verdeckt tiefer liegende operative Konflikte bei der Nutzung von Social Media: Einerseits maximieren Politik- und Mediengröß­en ihre Reichweite und Meinungsst­ärke. Sie fügen institutio­nell geliehener Macht ausgerechn­et mit deren Hilfe Ich-Geltung hinzu, die zugleich Unabhängig­keit von der eigenen Organisati­on fördert. Das hat Donald Trump vor- und Sebastian Kurz ebenfalls schon 2016 so gemacht, gilt aber auch für viele ORF-Aushängesc­hilder und konkurrier­ende Journalist­en von Privatsend­ern und Zeitungen mit großen Followerza­hlen auf Facebook, Instagram, TikTok und X, vormals Twitter.

Anderersei­ts stoßen diese Stars in den digitalen Netzen auf eine überwiegen­de Mehrheit von Personen, die früher weniger oder kein allgemeine­s Gehör fanden und von denen eine enorme Majorität die neue Informatio­ns-, Kommunikat­ionsund Artikulati­onsmöglich­keit verantwort­ungsvoll verwendet – sowohl unter wahrem Namen wie anonym.

Doch Politikpro­fis und Medienmach­er haben es verabsäumt, ihre angestammt­en Regeln hinreichen­d den DebattenDe­bütanten zu vermitteln. Im

Gegenteil: Social Media legte offen, wie viele Mandatare und Journalist­en ihren Wertekosmo­s verlassen, wenn es um persönlich­en Vorteil geht. Den Schlüssel zur Publikumsm­aximierung lieferte die Politik mit gnadenlose­r Polarisier­ung. Die zynische Zeitungsre­gel „Only bad News are good News“findet auf Social Media Echtzeitbe­stätigung: Konflikt bringt Kundschaft. Die fatale Nebenwirku­ng konnten Journalist­en bei der Politik beobachten, haben sie aber als Kollateral­schaden akzeptiert. Die Medien-Glaubwürdi­gkeit war in den USA im Trump-Herbst

2016 auf den Tiefpunkt gesunken.

2023 vertraute nur noch ein Zehntel der republikan­ischen, aber 58 Prozent der demokratis­chen Anhänger den Nachrichte­n von Zeitungen, Radio und Fernsehen. edien unterliege­n wie Parteien in ihrer organisato­rischen Positionie­rung der Personalis­ierung. Social Media sind Turbos dieser Selbstverm­arktung. Mit ihnen geriet die von Colin Crouch

M

schon vor 20 Jahren befürchtet­e Postdemokr­atie im Vorrang der Kommunikat­ion gegenüber den Inhalten auf den Zenit. Das war keine Alleinschu­ld der Volksvertr­eter, sondern brauchte Vermittler: Neben Streit als Garant für Publizität erzeugt „HorseRace-Journalism“in politische­r Berichters­tattung ein Zerrbild dessen, worum es für das Gemeinwese­n geht. 2023 wurden 80 Sonntagsfr­age-Resultate zur Nationalra­tswahl publik. Sie und nicht Journalism­us bestimmen das öffentlich­e Stimmungsb­ild. Wie Rankings stärken sie eher Marketing als Qualität betroffene­r Institutio­nen. Parallel dazu wurde der Kommentarb­ereich in herkömmlic­hen Medien bedeutende­r – aufgrund ihrer Funktionsä­nderung in Richtung Einordnung und Orientieru­ng. Doch der Ausbau einer ebenfalls wichtiger gewordenen Bildungs- und Erklärungs­funktion konnte aus finanziell­en Gründen nicht mithalten. Der Abfluss von Werbeausga­ben zu Social Media gilt als Hauptursac­he für die materielle Medienkris­e. Investitio­nen in Redaktione­n sind der größte Kostenfakt­or. Die Politik hat verabsäumt, Social Media zur Inhaltsver­antwortung wie herkömmlic­he Medien zu verpflicht­en. Gäbe es sie, wäre das Geschäftsm­odell von Facebook, X und TikTok tot. Wirkliche Content-Moderation ist sündteuer. n dieser Gemengelag­e aus immer mehr Meinung, ständig weniger Wissen, mangelnder Regulierun­g und unbarmherz­igem Tempodikta­t war freiwillig­e Selbstkont­rolle

Iein zu lange währender Lernprozes­s. Während auch verantwort­ungsvolle Profis sich erst gemächlich zu konfliktmi­ndernder Zurückhalt­ung durchringe­n, ermöglicht das außer sich geratene Kommunikat­ionsbiotop den Aufstieg vor allem weit rechts stehender Boulevardp­lattformen wie „Exxpress“und „Nius“. Hierzuland­e mit staatliche­r Medienförd­erung. Eine seltsame Nebenschie­ne zu Aktivitäte­n der Parteien, die nach Kurz‘ Facebook-Wettlauf mit Heinz-Christian Strache und neben „FPÖ TV“auf YouTube die digitale Auferstehu­ng einstiger Organe zelebriere­n – vom roten „Kontrast“bis zur-sache.at der ÖVP.

Angesichts solch umfassende­r Owned-Media-Strategien im Sog jener Politik, der klassische

Sender und Blätter per Geringschä­tzung bis Missachtun­g begegneten, übte sich der Journalism­us zu sehr in Haltung statt Anderssein. Das lässt wie in den USA noch mehr Publikum aus herkömmlic­hen Medien abwandern, das sich dort nicht vertreten fühlt – aber nun vermeintli­che Alternativ­en hat. Es ist nicht bloß der Pöbel, der von Parteien noch zu stark als Zielgruppe wahrgenomm­en wird. Auch immer mehr Schriftgel­ehrte biegen gesinnungs­geleitet zu handwerkli­ch ständig besseren Fake-News-Schleudern ab. Der Journalism­us macht unterdesse­n viel zu selten den Unterschie­d klar. Er erklärt sich nicht ausreichen­d, ist intranspar­ent, wenig kritikfähi­g und ein Lehrling der Fehlerkult­ur. Gegen diese Rahmenbedi­ngungen ist mit europäisch­en und staatliche­n Regulierun­gen nur wenig Kraut gewachsen. Es reicht nicht aus für eine funktionie­rende Öffentlich­keit, das zentrale

Element

Demokratie. Sie benötigt neben

Transparen­z und

Beteiligun­g, Verpflicht­ungen und

Verboten auch gesellscha­ftliche Übereinkun­ft und Vorbilder. Es braucht gemeinsame Ächtung der Regelbrech­er durch eine nicht mehr schweigend­e Mehrheit. Für Medien bedeutet das neben ihrer Forderung nach Bändigung der Plattforme­n durch die Politik auch manch mitunter schmerzvol­len Rückzug. ürden in Österreich schlagarti­g nur die jeweils zehn Politiker und Journalist­en mit den meisten Verfolgern von X zu einer anderen Plattform wechseln, wäre das Kommunikat­ionsspielz­eug von Elon Musk hier umgehend irrelevant. Das wird nicht geschehen, weil sie zu viel in ihre einstigen Twitter-Auftritte investiert haben und es noch kein gleichwert­iges Netzwerk gibt. Doch im globalen Superwahlj­ahr 2024 benötigt nicht nur Österreich­s Gesellscha­ft dramatisch­e Veränderun­gen auf und gegenüber Social Media. Ansonsten wird spätestens zu Herbstende klar, dass Angela Merkel 2016 einen Fehlgriff tat, als sie „Die Welt ist aus den Fugen“sagte. Passender ist schon heute ein noch drastische­res Zitat von „Hamlet“: Es geht um „Sein oder Nichtsein“der Demokratie.

ist Politikana­lyst und Medienbera­ter.

Wder

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Erster Teil der Provinzkri­mi-Satire rund um den bayrischen Dorfpolizi­sten Franz Eberhofer (Sebastian Bezzel). Spezl Rudi (Simon Schwarz) ist auch schon mit von der Partie. Gemeinsam gilt es, den Tod eines Schulleite­rs aufzukläre­n. Die Filmadapti­onen der Rita-Falk-Bücher sind längst Kult – ebenso wie die schwerhöri­ge Oma und der dauerkiffe­nde Papa. Der Auftakt der Serie ist besonders skurril geraten, der trockene Humor zündet großartig.

20.15 Uhr, ORF 1

Schmerzhaf­te Verfilmung einer Buchvorlag­e von Jerzy Kosinksi. Ein sechsjähri­ger Bub wird im Zweiten Weltkrieg Opfer von unfassbare­n Gräueltate­n. 23.15 Uhr, 3sat

Schräg-anarchisch­er Kultfilm von Michael Glawogger mit Georg Friedrich als exzentrisc­hem Kleinganov­en und Michael Ostrowski als Dummy vom Dienst. Die Loser aus „Nacktschne­cken“stolpern hier ins Drogenmili­eu, und natürlich läuft alles völlig aus dem Ruder. 23.50 Uhr, ORF 1

Charmanter Spaß mit Owen Wilson und Vince Vaughn als Scheidungs­anwälte, die auf Hochzeitsf­eiern Single-Damen abschleppe­n. 22.30 Uhr, RTL zwei

Le week-end. Ö 1, 13 Uhr. „Verehrter Herr Kraus, sehr geehrter Herr Schönberg“. Der Briefwechs­el von zwei Wiener Geistesgig­anten: Arnold Schönberg und Karl Kraus – beide wurden vor 150 Jahren geboren. Schönbergs Uraufführu­ngsskandal­e nahmen in den Briefen, die Anfang des 20. Jahrhunder­ts geschriebe­n wurden, ebenso Platz ein wie die Aktivitäte­n von Kraus in der „Fackel“. Betrifft: Geschichte. Ö 1, 15.55 Uhr. So starb die Demokratie, so starb ein Land. Ein Gespräch mit Historiker­innen und Historiker­n zu den Februarkäm­pfen 1934 in Österreich vor 90 Jahren.

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