Kleine Zeitung Kaernten

Leitkultur – was soll das sein?

- Christian Teissl

eitartikel hat man schon viele gelesen; mit manchen war man einverstan­den, mit anderen nicht. Leitfigure­n oder solchen, die sich dafür halten, ist man im Laufe der Zeit immer wieder begegnet; manchen hat man Respekt gezollt, gegen andere sich aufgelehnt. Leitfäden wiederum hat man beim Bedienen von Geräten, beim Erlernen fremder Sprachen, beim Erkunden fremder Länder gerne zu Rate gezogen. Aber eine Leitkultur? Was mag das sein? Wer bestimmt darüber? Die zahlende oder die schweigend­e Mehrheit?

Niemand weiß es so recht und doch geistert der Begriff seit Jahren durch Sonntagsre­den und Wahlkampfa­nsagen, wird immer wieder aufgegriff­en, vornehmlic­h von konservati­ven Politikeri­nnen und Politikern. Zuletzt vom Bundeskanz­ler, der im Rahmen seines „Österreich­plans“ankündigte, in einem großen Nachdenkpr­ozess eine österreich­ische Leitkultur fixieren zu wollen, quasi als Hausordnun­g für das Haus Österreich und zugleich als eine Art verfassung­srechtlich verankerte und damit allgemein verbindlic­he Lebensart, unverwechs­elbar, unverhande­lbar, und vor allem: typisch für dieses Land. as „typisch österreich­isch“ist, darüber haben sich hierzuland­e schon viele den Kopf zerbrochen; die Ergebnisse füllen eine ganze Bibliothek und sind beredtes Zeugnis für das zwiespälti­ge, das zutiefst ambivalent­e Verhältnis der österreich­ischen Nation zu sich selbst. „Das Beiwort ‚österreich­isch‘“, meinte Hans Weigel schon in den frühen Tagen der Zweiten Republik, „hat für den Österreich­er ein negatives Vorzeichen, und sein Leiblied ‚O du mein Österreich‘ klingt nicht wie eine Fanfare, sondern ist ein auskomponi­erter Stoßseufze­r der Resignatio­n“. Wenn es jemals eine österreich­ische Leitkultur gegeben hat, bestand sie im Wesentlich­en aus dem Leiden an der eigenen Kultur und aus der Fähigkeit, sie dennoch zu lieben. Denn Liebe, um noch einmal Weigel zu zitieren, „gilt nicht dem Vollkommen­en, sondern vollendet das Unvollende­te. Liebe sucht nicht Fehlerlose­s, sondern verklärt die Fehler, sagt nicht ‚deshalb‘, sondern ‚trotzdem‘“.

ist Autor in Graz und Vorsitzend­er des Österreich­ischen Schriftste­ller/innenverba­ndes.

L„Österreich­ische Leitkultur besteht aus dem Leiden an der eigenen Kultur und der Fähigkeit, sie dennoch zu lieben.“

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