Zugfahren für das Keimspektrum
Ja eh, unsere Züge sind alle überfüllt. Aber man erlebt wenigstens was.
ch fahre zu selten Zug. Fällt mir im Zug immer auf. Schön ist das, man kann z. B. arbeiten oder dem Kleinkind zusehen, das, während seine erschöpfte Mutter in ein Nickerchen abdriftet, eine schöne Stillbeschäftigung gefunden hat, die darin besteht, die Fensterscheibe des Abteils gründlich abzulecken. Man sollte jetzt was sagen, aber die Frau schläft so gut, und es heißt ja, dass ein breites Keimspektrum die Immunabwehr der Kinder stärkt. Insofern blickt der Kleine einem kerngesunden Erwachsenenleben entgegen, auch wenn der Schaffner die Verkostung freundlich, aber jäh unterbricht.
Überhaupt, das Personal: Es ist so nett. Der Schaffnergrant, zu dem es früher, glaube ich, vertraglich verpflichtet war, ist feinem Charme gewichen und unerklärlicher Geduld, etwa wenn man einem Fahrgast, der in der 1. Klasse sitzt und glaubt, dass ihm jetzt die ganze ÖBB gehört, erklären muss, wieso der Mann mit dem Kaffeewagerl noch nicht da ist: Er muss sich durch den vollen Zug erst nach vorn durchpflügen.
Na ja: Wer kauft, der schimpft. Erst recht, seit Zugfahren wieder angesagt und die Bahn ständig überlastet ist. Zu wenig Waggons, zu wenig Personal. Kein W-Lan, keine Heizung, gestrichene Verbindungen, Verspätungen. An denen, sagt der Schaffner, sei er aber echt nicht schuld: Ausläufer der Verspätungslawinen bei der Deutschen Bahn. (Jaja. Dafür sind unsere Nachbarn in Sachen fiktionaler Schienenverkehr auf Höhe der Zeit: Der Kinderbuchverlag, der Michael Endes „Jim Knopf und der Lokomotivführer“-Bücher herausgibt, streicht jetzt das N-Wort im Text und reduziert stereotype Darstellungen schwarzer Menschen in Wort und Bild. Das scheint – vorerst – keine Diskussionen auszulösen. Offenbar gelingt es den meisten mit der Zeit ja doch, auf gewohnte Rassismen zu verzichten.) itzt man in verspäteten Zügen, kommt man gut ins Plaudern. Letztens erzählte mir einer, er müsse noch rasch in den Speisewagen, seine letztwöchige Rechnung zahlen. Wie bitte? Ja, sagte er, der Kellner kennt mich schon und lässt mich anschreiben. Im Zugbuffet Kredit kriegen: Wer das schafft, macht im Leben etwas richtig. Seine Immunabwehr hält er im Speisewagen wahrscheinlich auch auf Trab.
IS