Gefährliche Kluft
Plakative Solidaritätsvisiten westlicher Politiker in der Ukraine machen nachlassende oder zu späte Verteidigungshilfen gegen Putins ungebrochene Aggression nicht wett.
ie Ukraine kam im dritten Kriegsjahr an, heute zählt man den 733. Tag der russischen Invasion. Raketenbeschuss und Drohnenattacken hielten auch am Wochenende an. Westliche Politprominenz kam trotzdem in das attackierte Land – von EU-Kommissions- chefin Ursula von der Leyen über Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Deutsch- lands Außenministerin Annale- na Baerbock bis hin zum kana- dischen Premier Justin Trudeau.
Es galt, an der Solidarität kei- nen Funken Zweifel aufkom- men zu lassen, eine geschlosse- ne Linie zu ziehen. Flankierend ließ Nato-General Jens Stolten- berg wissen: „Die Ukraine wird der Nato beitreten. Es ist nicht die Frage, ob, sondern wann.“
Und hier tut sich die große Kluft auf: Der Westen unter- stützt massiv, doch er scheint zu ermüden. „50 Prozent des Zu- gesagten treffen nicht rechtzei- tig ein“, bilanziert Kiew die auf dem Schlachtfeld fatalen Eng- pässe bei Waffenlieferungen. Während sich Europa selbst mi- litärisch neu sortieren und auch aus eigenem Interesse Verteidigungskapazitäten aufbauen muss, mahlen die Mühlen lang
Dthomas.golser@kleinezeitung.at
sam. 8000 Raketen soll Russ- land seit Kriegsbeginn auf die Ukraine abgefeuert haben, keine wird durch Worte des Zuspruchs aufzuhalten gewesen sein. Was der Westen der Ukrai- ne nicht oder zu spät an Unter- stützung zukommen lässt, wird vom Kreml mehr denn je mit Ar- gusaugen verfolgt werden.
Der Ruf nach Frieden ist laut und mehr als nachvollziehbar – doch aus Moskau gibt es dazu ebenso wenige Signale wie aus Kiew: Auf der einen Seite geht es um den Fortbestand als Nation, dem ein Diktatfrieden ein Ende bereiten würde. Für Putin zählt der interne Machterhalt. Sein Narrativ, ultimativer Bewahrer der angeblich aktiv vom Westen ins Visier genommenen russi- schen Identität zu sein, wider- spricht bis auf Weiteres dem Gang zum Verhandlungstisch.
Der Kreml-Machthaber kennt nur Maximalziele, ein Einlenken wäre für ihn Zeichen von Schwäche. Dass ein ukrainischer NatoBeitritt nach der Invasion wahrscheinlicher als zuvor scheint, ist indes nur ein Indiz dafür, dass der Kriegsverlauf für Russland keine Erfolgsgeschichte ist. Von unzähligen in den Tod geschickten russischen Soldaten ganz zu schweigen. onnenklar muss sein: Der Kreml und sein Propaganda-Apparat lauern geiergleich auf jedes erkennbare Zeichen von Schwäche und Uneinigkeit des Westens. Der Ukraine-Krieg verläuft in Wellen, steckt im Stadium der Abnutzung und Materialschlacht fest. Erreicht Putin in der Ukraine dennoch seine Ziele, sind die weiteren Folgen nicht einmal annähernd abschätzbar. Abseits von greifbarer Solidarität darf Europa auch und gerade um seiner selbst willen nicht zaudern.
Wie real Krieg 2024 in Europa ist, erlebte am Wochenende Annalena Baerbock: Wegen Luftalarmen musste die deutsche Außenministerin in Odessa in den Kellerbunker ihres Hotels flüchten und aus der Stadt Mykolajiw aus Sicherheitsgründen sofort abreisen: Eben das können Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern nicht.
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