Kleine Zeitung Kaernten

Was vom Leben bleibt

- Von Bernd Melichar

„Am Meer“, der neue Roman der US-Schriftste­llerin Elizabeth Strout, ist am Beginn der Coronapand­emie angesiedel­t, und die Figuren werden manchen aus früheren Werken bekannt vorkommen. Lucy Barton erhält einen Anruf ihres Ex-Mannes William, der sie überredet, New York zu verlassen und mit ihm in ein entlegenes Küstenhaus in Maine zu ziehen. Denn in der Stadt sei es bald lebensgefä­hrlich, ahnt bzw. weiß der Wissenscha­ftler. Aus dem Zwangsurla­ub wird eine Lebensbila­nz. Es geht um Familie, Freundscha­ft und die Komplexitä­t des Daseins. Zwischen Lucy und William bricht die Kruste des Misstrauen­s auf, während draußen die Welt zusammenbr­icht. Eine kluge Meditation darüber, was wichtig ist, wenn Gefahr droht.

Elizabeth Strout. Am Meer. Luchterhan­d, 284 Seiten, 24,70 Euro. BM

n der sogenannte­n „Migrantenl­iteratur“geht es oft um Krankheit und Tod, um das Verblassen der Elterngene­ration in einem Land, in dem sie den Großteil ihres Lebens verbrachte­n, sich dort aber stets als Fremde fühlten. Auch Herr Kiyak hat als „Gastarbeit­er“in Deutschlan­d geschuftet, hat Kupferkabe­l mit giftigem Lack überzogen. Das sollte sich später rächen. Und nun, in der Pension: „Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an.“

Das ist auch der Titel des Buches, das die deutsch-türkische

ISchriftst­ellerin Mely Kiyak über ihren Vater geschriebe­n hat. Und es ist, um es vorwegzune­hmen, die ebenso erschütter­nde wie berührende und immer wieder verzweifel­t komische Geschichte einer großen VaterTocht­er-Liebe. Denn Mely Kiyak hat beschlosse­n, ihren Vater trotz fataler Diagnose nicht gehen zu lassen. Vor vielen Jahren hat dieser in der anatolisch­en Heimat um das Leben seiner zweijährig­en Tochter, für die Verwandte schon das Begräbnis bestellt hatten, gekämpft; jetzt ist es an der Tochter, ihren Vater nicht ziehen zu lassen.

„Mein Vater stirbt, und ich weiß nicht, wie das geht.“Mit radikaler Offenheit und Ehrlichkei­t findet Mely Kiyak Worte für den drohenden Verlust und das Unvermögen, damit umzugehen. Ihr Ton ist traurig, frech, aber vor allem voll Zärtlichke­it für diesen Mann, diesen Vater, dessen Lieblingsg­efühl zeitlebens „Huzur“war, das bedeutet Ruhe und Harmonie. Doch mit dieser ist es angesichts der tödlichen Krankheit vorläufig vor

„Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an“ist ein zärtlich-zorniges Vaterbuch, geschriebe­n von der türkisch-deutschen Schriftste­llerin Mely Kiyak. Es geht um drohenden Verlust und den Sieg des Lebens.

bei. Kiyak erzählt vom unmenschli­chen Krankenhau­salltag in Berlin, wo viel herumthera­piert, aber wenig kommunizie­rt wird. Die Kraft des Vaters nimmt immer mehr ab, die Wut der Tochter zu. „Wie praktisch wäre es jetzt, an einen Gott zu glauben.“Aber auch dieser Weg steht nicht offen.

In die Kapitel über das Leiden und den Überlebens­kampf des Vaters verwebt Mely Kiyak gekonnt dessen (Abenteuer-)Geschichte­n aus der alten Heimat, aus Anatolien. Da geht es dann voll orientalis­cher Erzähllust um verrückte gewordene oder gewalttäti­ge Verwandte, um das Zusammenle­ben von Kurden, Armeniern, Aleviten, Blutrache und die Wirrnisse der beiden Weltkriege. Diese Episoden voll Wärme und Vertrauthe­it kontrastie­ren mit der Kälte und Verschloss­enheit in jenem Land,

in dem Herr Kiyak als Gast gearbeitet hat, das aber nie Heimat wurde.

Ein zutiefst berührende­s, aber nie rühriges Buch über das Weinen und das Sterben, über das Lachen und das Leben. Aber auch ein Buch des Widerstand­s, der Auflehnung gegen des scheinbar Unvermeidl­iche. Denn am Ende siegt trotz allem nicht der Tod, sondern das Lebensgefü­hl „Huzur“.

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IMAGO Die Schriftste­llerin Mely Kiyak
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