Der Rheingraben wird tiefer
Emmanuel Macron und Olaf Scholz finden in ihren strategischen Überlegungen nicht zusammen. Das schwächt die Ukraine – und die Europäische Union.
ie Lage ist ernst. Nicht nur auf dem Schlachtfeld in der Ukraine. Zwei Seiten widmete das französische Blatt „Le Monde“am Wochenende dem deutsch-französischen Zerwürfnis. Der Rheingraben zwischen Deutschland und Frankreich ist wieder einmal tief.
Unterschiedliche Perspekti- ven hat es immer wieder gege- ben. In früheren Zeiten wurden sie produktiv genutzt. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle trieben auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs die europäi- sche Integration voran. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing fanden in der Ölkrise in der ökonomischen Gesamt- steuerung zusammen. Helmut Kohl und François Mitterrand weiteten nach dem Fall der Mauer die europäische Idee auf Osteuropa aus. Seit dem Regie- rungsumzug nach Berlin 1989 aber stockt das deutsch-franzö- sische Tandem.
Das zeigte sich schon in der Eurokrise. Auch sprachlich. „Fai- re des économies“– wirtschaf- ten – heißt es in Frankreich, wenn’s um Budgeteinsparun- gen geht. Das lässt viel Spielraum. Auch politisch. Im deut- schen „Sparen“klingt schon das
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Gürtelengerschnallen mit. Auch daher der deutsche Fetisch mit der Schwarzen Null.
In militärstrategischen Fra- gen ist die Dissonanz ähnlich. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron sieht die EU in napoleonischer Tradition auch als militärische Macht – selbstre- dend unter französischer Füh- rung. Deutschland sieht die EU primär als Handelsverband. Das Strategische, gar Militärische wird auf der deutschen Rhein- seite seit 1945 nur versteckt mit- gedacht. Daran hat auch Russ- lands Angriffskrieg in der Ukraine wenig geändert. Scholz und Macron finden nicht zu- sammen. Und demonstrieren dies öffentlich. Der deutsche Kanzler präsentierte im vergan- genen Jahr bei seiner Europa- Rede in Prag eine Initiative zur europäischen Luftabwehr.
Der Élysée war vorab nicht in- formiert und reagierte pikiert. Macron revanchierte sich jetzt mit dem Vorstoß, im äußersten Fall eines russischen Vorstoßes Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden. Scholz reagierte hart ablehnend. In Berlin wird gestreut, der Kanzler habe dem französischen Präsidenten von der Idee abgeraten. Strategische Ambiguität nennt das Paris. Putin soll sein Risiko nicht kalkulieren können. Scholz indes formuliert öffentlich rote Linien. er Kanzler hält sich streng an die USA und an Präsident Joe Biden. Sein Kalkül: Deutschland ist nur wirtschaftlich stark, militärisch läuft in Europa ohne die Verbündeten aus Übersee wenig. Macron denkt weitsichtiger. An eine mögliche neue Präsidentschaft des Isolationisten Donald Trump – und an die Konsequenzen für EU und Nato.
Ein Verteidigungskommissar in der EU-Kommission allein wird das Problem nicht lösen. Eine gemeinsame europäische Armee wäre die passendere Initiative. Derzeit marschieren Deutschland und Frankreich getrennt. Von Schlagen ist überhaupt nicht die Rede. Die strategische Dissonanz schwächt die Europäische Union. Vor allem aber die Ukraine.
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