Unsere Lust auf Fleisch
Noch wird mehr über Laborfleisch diskutiert als das aus Stammzellen produzierte Nahrungsmittel gegessen. Doch das wird wohl nur eine Frage der Zeit sein.
er Mensch ist, was er isst. Über die Wahrheiten und Deutungsebenen, die in diesem Aphorismus stecken, könnten Bibliotheken geschrieben, wenn das nicht schon geschehen wäre.
Wir definieren uns, schon rein körperlich, aus den Stoffen, die wir als Nahrung zu uns nehmen. Zugleich haben wir aus dem, was und wie wir essen, einen wesentlichen Teil unserer kul- turellen Identität aufgebaut. Nicht nur als Einzelne, sondern darüber hinaus als gesellige Ge- meinschaftswesen.
Doch wie jede Tradition ist auch unsere Art zu essen, nie- mals starr, sondern ständig in Bewegung und Neuem unter- worfen. Dabei hat noch jede Ver- änderung für erbitterte Diskus- sionen gesorgt. Mein Vater, ein kleiner Metzgermeister, war über siebzig, als er sich in den 1990ern zum ersten Mal überre- den ließ, einen industriell produ- zierten Hamburger, diese Ikone der westlichen Popkultur, zu es- sen (er hat ihm nicht ge- schmeckt).
Was er über Laborfleisch ge- sagt hätte, will ich mir nicht vorstellen. Trotzdem ist die Aufregung über das aus tierischen
Dwalter.haemmerle@kleinezeitung.at
Stammzellen produzierte Nah- rungsmittel so normal wie er- wartbar. Die Wichtigkeit des Themas ergibt sich aus den Fol- gekosten unseres Tuns: So viel Fleisch, wie wir essen, lässt sich nicht nachhaltig und unter Rücksicht auf das Tierwohl pro- duzieren. Schon gar nicht welt- weit, aber auch nicht für Wohl- standsinseln wie Europa.
Wenn sich nun sechs von zehn Befragten für die Zulassung von Laborfleisch aussprechen, so- fern dieses als sicher bewertet wird, kommt darin mehrerlei zum Ausdruck: erstens, die Of- fenheit unserer grundsätzlich offenen Gesellschaft auch für gewöhnungsbedürftige Neue- rungen; und, zweitens, die hohe – und wohl weiter wachsende – Bedeutung von Transparenz und zweifelsfreien Sicherheits- standards in allen Fragen, die unsere Gesundheit angeht.
Der Gegensatz zwischen na- türlichen, regionalen Lebensmitteln und industriell produzierten ist real und inszeniert zugleich. Die gegensätzlichen Bilder, die damit abgerufen werden, verfügen über enorme emotionale Wucht: glückliche Schweine hier, grausam gequälte Lebewesen dort. Die Idee von Laborfleisch – nicht, jedenfalls noch nicht, die existierende Praxis – verspricht, Tierleid zurückzudrängen, vielleicht sogar einmal ganz zu beenden. Der Traum von glücklichen Tieren auf gesunden Wiesen, die für unser Schnitzel sorgen, ist in ihrem Kern die Ausnahme für eine glückliche Minderheit.
Das ist die Wahrheit, an die zu gewöhnen uns so schwerfällt. Dabei haben wir längst gelernt, dem Geruch, dem Gefühl von rohem Fleisch als Grundbestandteil unserer Nahrung aus dem Weg zu gehen. Umso öfters taucht es in der schön inszenierten Werbewelt wieder auf. aborfleisch wird sich in diese künftige Realität hineinfügen. An der industriellen Produktion führt kein Weg für das Massenwesen Mensch vorbei. Auf Sicherheit und Standards wird zu achten sein. Für die gschmackige Inszenierung wird von allein gesorgt.
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