Der Kipppunkt im Gazakrieg
Sechs Monate nach dem Hamas-Massaker steckt Israel im Dilemma. Das Land gewinnt zwar die Schlacht am Boden, verliert aber zunehmend an Unterstützern.
er Krieg in Gaza war nur wenige Wochen alt, als eine hochrangige Delegation des US-Außenministeriums bei ihrem Besuch in Jerusalem eine klare Warnung deponierte. Israel würde für seine Offensive gegen die Hamas nur über ein sehr begrenztes Zeitfenster ver- fügen, zu schnell werde sich trotz des Horrors des Massakers vom 7. Oktober die Stimmung gegen den Militäreinsatz dre- hen. Dass es dann auch für die Vereinigten Staaten immer schwierigerer werde, ihren wich- tigsten Verbündeten im Nahen Osten vorbehaltlos zu unter- stützen, sprachen die Amerika- ner damals nicht aus, die zwi- schen den Zeilen transportierte Botschaft war aber unmissver- ständlich.
Knapp sechs Monate nach dem Hamas-Überfall ist der Kipppunkt, vor dem die US-Di- plomaten bei ihrem Besuch ge- warnt haben, nun endgültig er- reicht. Die Fotos von verzweifel- ten Palästinensern und im Schutt liegenden Toten, die tag- täglich auf den TV-Bildschir- men und in den sozialen Medien zu sehen sind, haben die Erinne- rung an die unvorstellbaren Gräuel des Hamas-Terrors fast
Dvöllig verdrängt. Jeder Versuch der israelischen Regierung, die Kontrolle über die globalen Nar- rative zu behalten, wird von der Wucht der aktuellen Bilder aus Gaza hinweggespült.
Dass Israel bisher die Schlach- ten am Boden gewonnen hat, aber im weltumspannenden In- formationskrieg unterliegt, hat aber nicht nur mit anti-israe- lischen Ressentiments zu tun, die sich in den Echokammern der sozialen Medien ungebremst hochschaukeln. Wenn durch die Hungersnot in Gaza, vor der Hilfsorganisationen in diesen Tagen im lauter und mit immer drastischeren Worten warnen, die ersten Kinder an Un- terernährung sterben, erodiert unweigerlich Israels moralische Legitimität. Was als gerechter Akt der Selbstverteidigung be- gonnen hat, kann nicht in einer massiven humanitären Kata- strophe für hunderttausende Palästinenser enden.
Wie der Regierung von Benjamin Netanjahu in den kommenden Monaten mit diesem Dilemma und der Frage nach einer Nachkriegsordnung umgeht, wird aber nicht nur das Schicksal der Palästinenser entscheiden, sondern auch das Israels: Derzeit weigert sich der Premierminister über eine Verwaltung des Gazastreifens durch die im Westjordanland regierende Palästinensische Autonomiebehörde oder eine internationale Koalition der Willigen auch nur nachzudenken, stattdessen sehen die bisher ventilierten Pläne eine längerfristige Besatzung vor. as Verhältnis zu den USA, die Israel im UN-Sicherheitsrat zuletzt mit einer Resolution für eine Waffenruhe eine Rute ins Fenster gestellt haben, wird daran nicht zerbrechen. Doch für Frieden und Stabilität in der Region braucht es nicht nur eine Partnerschaft mit den USA, sondern auch mit den arabischen Staaten. Und ohne gute Beziehungen zu anderen Ländern und Zugang zu weltweiten Märkten wird sich auch die Erfolgsgeschichte der exportorientierten Wirtschaft Israels nicht fortschreiben lassen.
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