Ein starker Standort probt die Sinnkrise
80.000 Industriebetriebe prägen das Bild des Standorts Österreich. Nun flammt die Sorge auf, dass Abwanderung bevorstehe. Berechtigterweise?
Eigentlich will Giesswein für Wohlgefühl stehen. Jüngst aber zogen düstere Wolken über dem Tiroler Textilhersteller, bekannt für seine Merinowolle-Schuhe, auf. Giesswein verlautbarte, Teile der Produktion aus Brixlegg abzuziehen. Vermutlich ins Ausland, explizit erklären wollte sich das Unternehmen diesbezüglich nicht. Die Verlagerung sei eine Reaktion auf „aktuelle Herausforderungen“, hieß es. Explizit führte Giesswein „zunehmende EU-Regulierung, steigende Verwaltungs-, Energie- und Lohnkosten“an.
Womit das mittelgroße Unternehmen plötzlich zum Sinnbild einer schwelenden und viel größeren Debatte im Land avanciert: Müssen wir uns um den Industriestandort Österreich sorgen? Geht es nach Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer, müsste man die Frage mit Ja beantworten. Im Auftrag der Kammer befragte das Beratungsunternehmen Deloitte von 11. bis 31. Jänner mehr als 500 Groß-, Mittel- und Kleinunternehmen der heimischen Industrie. Zentrale, alarmierende Erkenntnis
der Erhebung, niedergeschrieben auf Seite fünf des Berichts: „Österreichs Industrie steht unter großem Druck.“
Die Autorinnen und Autoren der Studie führen das auf unterschiedliche Faktoren zurück. Einerseits hätten internationale Handelskonflikte und Spannungen zwischen den großen Wirtschaftsblöcken den globalen Wettbewerb in den letzten Jahren verschärft. Andererseits würde die Industrie in Österreich speziell unter „hohen Arbeitsund Energiekosten sowie zunehmender Bürokratie und gestiegenen regulatorischen Anforderungen“leiden.
Ein Amalgam, das Existenzsorgen hervorruft. Sehen doch drei von vier Betriebe der Deloitte-Studie die „Gefahr einer Deindustrialisierung Österreichs“. Dass diese Projektion nicht völlig losgelöst ist, legt eine andere Zahl nahe. So geben 41 Prozent der Unternehmen an, in den letzten drei Jahren bereits „Teile der Wertschöpfungskette“verlagert zu haben.
Ja, zurzeit ziehen „Unternehmen Verlagerungen von Produktionsschritten
in Erwägung“, schildert auch Werner Hölzl, Ökonom am Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo), das Ergebnis jüngerer Untersuchungen des eigenen Hauses. Hölzl: „Die Intensität dieser Überlegungen hat im Vergleich mit vorherigen Befragungen deutlich zugenommen“. Selbst der Wirtschaftsminister ortet im Gespräch Probleme. „Es ist natürlich eine Phase, wo vieles zusammenkommt und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe unter Druck gerät“, sagt Martin Kocher zur Kleinen Zeitung. Um dann doch zu relativieren: „Andererseits wissen wir, dass in konjunkturell schwächeren Phasen die Stimmung oft schlechter ist als die Lage.“
Keinen Zuckerguss legt Timo Springer, Chef der weltweit agierenden Maschinenfabrik Springer in Friesach und Präsident der Kärntner Industriellenvereinigung, um seinen Befund: „Die Politik bereitet sich auf die Wahl vor und vergisst, dass sie für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes verantwortlich ist.“Man beobachte auch in Kärnten „quer durch alle Industrien“, dass Investitionsentscheidungen aufgeschoben oder ins Ausland verlagert werden. „Vor uns tut sich ein Abgrund auf“, will Springer wachrütteln.
Wenngleich, und an dieser Stelle legt Wifo-Ökonom Hölzl einen Einkehrschwung ein, im Industrieland längst nicht alles verloren sei. Tatsächlich habe sich „die Industrieproduktion seit der Finanzkrise positiv entwickelt“, sagt er, „und in den letzten Jahren jedenfalls positiver, als es etwa in Deutschland der Fall war.“
Auch andere Kennzahlen lassen nicht nur triste Schlüsse zu. In der Analyse eines Standorts blicken Wirtschaftsforscher etwa gerne auf die „relativen Lohnstückkosten“als Vergleichsgröße. Diese fassen die Veränderungen von Arbeitskosten, Produktivität und Wechselkurs zusammen. Allgemein gesprochen gilt: Niedrigere Lohnstückkosten stehen für höhere Wettbewerbsfähigkeit. Steigen die Löhne im Land, ohne dass die Produktivität der Betriebe zunimmt, steigen die Lohnstückkosten. In Österreich konstatierte das Wifo für 2022 eine
Isolierte Lohnkostenvergleiche mit Standorten wie China oder Rumänien sind nicht sinnvoll. Zu einem wettbewerbsfähigen Standort zählen viel mehr Faktoren, die die Produktivität bestimmen. Etwa Infrastruktur, die Qualität von Ausbildung oder die Qualität der existierenden Belegschaft. Nimmt die Zuverlässigkeit einer Produktion ab, kann es auch bei grundsätzlich niedrigen Lohnkosten teurer werden. Entscheidend ist, ob man höhere Kosten auf dem Markt durchsetzen kann.
Wie kann das gelingen?
Es braucht die Fähigkeit, etwas zu produzieren, das andere nicht können. Das ist der ultimative Wettbewerbsvorteil. Wettbewerbsfähigkeit muss immer wieder aufs Neue erkämpft werden. Wer sich zurücklehnt, verliert.