7 Objekten
Wie Dornenkrone, 30 Silberlinge, Geißel, Kelch, Kreuz und Grabtuch das Leiden und Sterben Jesu begreifbar machen.
Wer dieses Objekt der Passion sehen will, braucht nur nach Wien zu fahren. Dort ist die Lanze, mit der Jesus am Kreuz in der Passionsgeschichte im Johannesevangelium in die Seite gestochen wurde, unter der Inventarnummer WS XIII 19 in der Schatzkammer zu besichtigen. Allerdings erweist sich auch eine Fahrt nach Rom als richtig, wo ein Kristallreliquiar in St. Peter die Überreste eben dieser Lanze enthält. Die über viele Jahrhunderte in der Sainte-Chapelle in Paris aufbewahrte Lanzenspitze hingegen ging in den Wirren der französischen Revolution verloren.
Die Lanze, die nur in einem einzigen der vier Evangelien in einem Satz Erwähnung findet, war über viele Jahrhunderte von derart eminenter Bedeutung, dass sie von konkurrierenden Königshäusern Europas als Besitz geführt wurde und das einzige Objekt der Passion, das vom nationalsozialistischen Regime „heim ins Reich“nach Deutschland
BTeil IV
geholt wurde. Wie keines der anderen Objekte ist die Lanze direkt mit weltlichem Machtund Herrschaftsanspruch verbunden und hat ihren fragwürdigen Platz in modernen Verschwörungstheorien.
Die Geschichte der Lanze als Objekt der Passion beginnt früh, zusammen mit dem Kreuz und den Kreuzesnägeln Christi soll sie die byzantinische Kaiserin Helena bei ihrem Besuch in Jerusalem im Jahr 326 entdeckt haben. Von dort wurde zunächst ihre Spitze 614 angesichts des Einfalls der Perser in Jerusalem nach Konstantinopel gebracht, wohin auch in den Jahrzehnten vor der ersten Jahrtausendwende der Hauptteil folgte. ald aber gingen Spitze und Hauptteil wieder getrennte Wege: Während die Spitze wie auch die Dornenkrone von König Ludwig IX. von Frankreich Mitte des 12. Jahrhunderts erworben und als Reliquie aufbewahrt wurde, schenkte der Sultan des mittlerweile von den Türken eroberten Konstantinopel Ende des 15. Jahrhunderts
den Hauptteil der Lanze Papst Innozenz VIII. in Rom, wo sie bis heute liegt.
Noch viel spektakulärer ist die Geschichte jener Lanze, die wir in Wien besichtigen können. Aufgrund von Material und Machart wissen wir heute, dass sie im 8. Jahrhundert im Bereich der Franken oder Langobarden angefertigt wurde. Heinrich I., König des Ostfrankenreiches, erwarb 926 diese Lanze vom burgundischen König Rudolf II., der sie zusammen mit seiner kurzfristigen Herrschaft über Italien erhalten hatte. Die Mythenbildung rund um diese Lanze setzt mit den Schlachten gegen die Ungarn ein, die Heinrich 933 bei Riade und Otto I. am Lechfeld gewinnen – dank des Einsatzes eben dieses Objektes der Passion. Damit ist die Legende von der Unbesiegbarkeit dessen, der die Lanze besitzt, begründet.
Die Logik hinter diesem Mythos ist einem magischen Denken geschuldet, das jener Waffe, die den Körper Christi zu verwunden imstande war, eine besondere Macht zuschreibt. Diese wird allerdings in einer mittelalterlichen Deutung ebenso wie bei den anderen arma Christi aus einer paradoxen Umdeutung abgeleitet: Christus und seine Anhänger verwandeln jene Objekte, die sie verletzen und zerstören sollten, zu ihren machtvollen Waffen, die nunmehr über allen weltlichen Gegenständen stehen. Die Wirkung wird noch dadurch verstärkt, dass in der Lanze ein weiteres Objekt der Passionsgeschichte eingearbeitet ist: Ein dornartiges Eisenstück, das als einer der Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz genagelt worden war, galt. n Texten des 10. Jahrhunderts firmiert die Lanze der Kaiser schlicht als lancea sacra (heilige Lanze). Erst in den folgenden Jahrhunderten erhält sie eine Vorgeschichte, die jenen Bezug zum direkten Geschehen der Passion herstellen soll, der dem Objekt selbst so offenkundig fehlt. Der Legionär und Märtyrer Mauritius soll diese Lanze getragen haben, was ihr im Mittelalter den Namen Mauritiuslanze einbrachte. Kaiser Konstantin soll sie getragen haben, der erste christliche Kaiser. Und schließlich, im 13. Jahrhundert, wurde die Lanze mit dem Soldaten aus der Passionsgeschichte in Verbindung gebracht. Dieser ist im Johannesevangelium namenlos, erhält aber bereits in Texten des 4. Jahrhunderts den Namen Longinus, weshalb die Lanze bis heute
Igeboren 1971 in Linz, ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz. auch als Lanze oder Speer des Longinus bekannt ist.
Karl IV. aus dem Haus der Luxemburger griff auf diese Lanze zurück, als es darum ging, seine Kaiserwürde zu legitimieren. Er führte zu Ehren der Lanze mitsamt Kreuznagel in Prag, wohin er sie hatte bringen lassen, in Abstimmung mit Papst Innozenz VI. 1353 für den Freitag nach der Osteroktav das Fest „de arma Christi“ein, das als „Speerfreitag“bekannt wurde. Noch viermal musste die Lanze übersiedeln, bis sie endgültig in der Schatzkammer in Wien ihren Platz fand: Zuerst während der Hussitenkriege nach Nürnberg, von dort während des Kriegs gegen Napoleon nach Wien, von wo sie Hitler nach dem „Anschluss“Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland wieder nach Nürnberg bringen ließ. 1946 erhielt Österreich als Sitz des letzten Habsburgerkaisers und damit Nachfolger des Heiligen römischen Reiches die Lanze mit den anderen Reichsinsignien wieder zurück.
Wer den jüngsten Indiana Jones Film aus dem Jahr 2023 gesehen hat, weiß: Der Mythos um die Lanze als Objekt vermeintlich unbesiegbarer Macht geht weiter: Seit den 1970er-Jahren erschien eine Fülle an populärkulturellen
Lesen Sie morgen:
Werken in den Genres Buch, Comic und Film, die immer wieder den Aufstieg des Nationalsozialismus auf den Besitz der Lanze zurückführen oder gar die Dystopie einer neuen Schreckensherrschaft mithilfe der Lanze entwerfen. So unterhaltsam manche dieser Produktionen auch sind – ihre Deutung der Lanze als magisches Objekt der Macht verlässt den Boden christlicher Legendenbildung, auf dem sich die Kaiser des Mittelalters bewegen. Während letztere sich als christliche Herrscher verstehen, die sich durch diesen Gegenstand aus der Passion Christi in besonderer Weise gestärkt sahen, wird die Lanze in der modernen Deutung zu einer völlig amoralischen, gefährlichen Geheimwaffe. n der Passionsgeschichte geht es aber darum, die Entscheidungen und Handlungen darzustellen, die zu Leid und Tod eines Menschen führen. Die Lanze ist wie die anderen Objekte der Passion eine Mahnung, wohin gewissenloses Machtstreben oder auch nur passives Zusehen führen können, keine magische Entschuldigung dafür, dass damals wie heute Böses getan wird.
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