Verlagerte Schwerpunkte
Die Nato erfindet sich gerade neu und erzeugt damit Verwerfungen in den alten Machtblöcken. Das gilt für die USA, vor allem aber für die Europäische Union.
usgerechnet Donald Trump und Wladimir Putin: Es ist wie ein makaberer Treppenwitz der Geschichte, dass es gerade diese beiden Männer sind, die sowohl die EU als auch die Nato dazu bringen, sich neu zu erfinden. Während die EU, wie es der Natur ihrer Or- ganisation entspricht, einen komplexen, langwierigen Re- formprozess mit offenem Ende begonnen hat, macht die Nato Nägel mit Köpfen. So fasste das mittlerweile auf 32 Mitglieder angewachsene transatlantische Verteidigungsbündnis gestern ohne langes Zögern den Beschluss, die Führungsrolle in der internationalen Unterstützung für die Ukraine zu übernehmen. Das gilt auch als Präventivmaß- nahme für den Fall, dass Donald Trump in den USA wieder das Ruder übernimmt.
Die Nato-Länder wollen der Ukraine ein 100-Milliarden-Eu- ro-Unterstützungspaket bis zum Jahr 2029 garantieren und damit auch die Koordination von Waffenlieferungen und Ausbildungsaktivitäten für die ukrainischen Streitkräfte über eine „Nato Mission Ukraine“si- cherstellen. Damit zieht das Bündnis eine Kompetenz an
Andreas.Lieb@kleinezeitung.at
Asich, die bisher in den Händen der USA lag, und zieht an der EU vorbei. In einem neuen Finanzie- rungsschlüssel sind die USA mit einem Anteil von nur noch 16 Prozent statt der bisherigen 50 Prozent ausgewiesen, auch das ein klarer Hinweis auf die Emanzipationsbestrebungen.
Dazu passt das von Selbstbe- wusstsein strotzende Bekennt- nis von Generalsekretär Jens Stoltenberg, das er schon früher geäußert hatte, dessen Wieder- holung gestern aber im Vorfeld der heutigen 75-Jahr-Feier in Brüssel mit extrem starker Au- ßenwirkung wahrgenommen wurde: Die Ukraine werde jeden- falls Nato-Mitglied: Die Frage sei nicht ob, sondern wann.
Während EU-Kommissions- präsidentin Ursula von der Ley- en ihre Behörde mit wechselhaf- tem Erfolg als „geopolitische“Einrichtung positionieren woll- te, ist dieses Upgrading der Nato praktisch über Nacht zugefallen. Entscheidungen werden im architektonisch anspruchsvollen, milliardenteuren Hauptquartier am Brüsseler Stadtrand sehr geradlinig und ohne große Winkelzüge getroffen, und es scheint zumindest bisher zu gelingen, auch mit kontraproduktiv und mitunter destruktiv agierenden Mitgliedern wie der Türkei oder Ungarn umgehen zu können. ens Stoltenberg hat sein an sich abgelaufenes Mandat letztes Jahr auf vielfachen Wunsch verlängert, doch noch in diesem Jahr steht seine Ablöse an. Sehr viel wird davon abhängen, wer die neue Person an der Spitze ist, vielleicht auch, aus welchem Land sie kommt. Kaja Kallas (Premierministerin von Estland) machte einen grandiosen Aprilscherz damit, ihr Name war davor ebenso gefallen wie jener von Mark Rutte (Niederlande) oder Mette Frederiksen (Dänemark). Auch Ursula von der Leyen könnte Appetit auf den Posten haben, falls es mit einer zweiten Amtszeit in der Kommission nichts wird. Die Personalie ist so heikel wie nie zuvor: Die Nato ist zum wichtigsten Mitspieler um die Zukunft Europas geworden.
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