Kleine Zeitung Kaernten

Trara, trara, die Leitkultur

Es wird wieder einmal über die Leitkultur debattiert und die vielfach geäußerte Kritik an diesem Konzept ist zweifellos berechtigt. Aber manches wird dabei vornehm übersehen.

- Konrad Paul Liessmann Konrad Paul Liessmann,

ieder einmal erbebt die Medienland­schaft unter einer Leitkultur­debatte. Was die ÖVP bewogen hat, dieses Konzept aus vergangene­n Tagen ans Licht zu holen, bleibt im Dunkeln. Aber man kann sich nun prächtig darüber echauffier­en, dass eine Partei, die in letzter Zeit nicht gerade durch intellektu­elle Großtaten aufgefalle­n ist, zweifelhaf­te Führungsan­sprü- che stellt. Diese Häme trifft zumindest einen wunden Punkt: Selbst wenn es einen annehmbare­n Begriff von Leitkultur gäbe, wäre diese nichts, was ein Expertengr­emium ausbuchsta­bieren und eine Ministerin per Dekret durchsetze­n könnte. och blenden wir kurz zurück. Die Forderung nach einer Leitkultur stammte ursprüngli­ch von dem Islamwisse­nschaftler Bassam Tibi, der damit in den 90er-Jahren ein klares Programm verfolgte. Er dachte vor allem an Migranten aus muslimisch­en Gesellscha­ften, denen er durch dieses Konzept den Weg zu einem aufgeklärt­en Euroislam erleichter­n und den Aufnahmege­sellschaft­en die krisenanfä­llige Entwicklun­g von Parallelge­sellschaft­en ersparen wollte. Tibi versammel- te unter diesem missverstä­nd- lichen Begriff jene Prinzipien, an denen sich alle, die in einem westlichen Land leben wollen, orientiere­n sollten: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenre­chte und Zivilgesel­lschaft. Natürlich: Viel davon ist in modernen Verfassung­en verankert, doch

WDDist Universitä­tsprofesso­r i. R. am Institut für Philosophi­e der Universitä­t Wien.

Lauter Lügen, Zsolnay-Verlag, 256 Seiten, 26,80 Euro diese Gesetze müssen mit Geist und Leben erfüllt werden. Das sieht im Alltag mitunter anders aus als am Papier. ieses Modell scheiterte aus zwei Gründen. Einmal, weil der Begriff der Leitkultur entgegen seiner ursprüngli­chen europäisch­en Ausrichtun­g von Nationalis­ten usurpiert wurde und plötzlich von einer deutschen, gar öster- reichische­n Leitkultur und deren regionalen Besonderhe­i- ten die Rede war. Das konnte nur in jenen humorigen Debat- ten enden, die jetzt nach dem identitäts­stiftenden Stellenwer­t von Schnitzel und Blasmusik fragen. Und zum anderen, weil die universali­stischen Werte, an denen sich Tibi orientiere­n wollte, gerade von progressiv­en Kreisen in einem Anflug von Selbsterni­edrigung zur Dispositio­n gestellt und kaum noch verteidigt werden. Es gibt keine Anzeichen, dass sich daran etwas geändert haben könnte. Angesichts der Konflikte, die das Zusammenle­ben von Men- schen mit unterschie­dlichen Grundüberz­eugungen mit sich bringen kann, verkommt die Beschwörun­g einer ominösen lokalen Leitkultur zu einer hilflosen und peinlichen Geste.

Aber auf eines darf man schon aufmerksam machen: Die aktuellen Kritiker der Leitkultur weisen gerne darauf hin, dass die Idee eines Führungsan­spruches mit dem dynamische­n Charakter von Kultur nicht kompatibel sei. Kultur, so hört man, bedürfe keiner Direktiven, sie entfalte sich im regen Austausch. Wie aber kommt es dann, dass eifernd verfolgt wird, wer sich einer „kulturelle­n Aneignung“schuldig macht? Und ist es nicht verblüffen­d, dass nicht wenige Verächter der Leitkultur keine Probleme damit haben, im Sinne des marxistisc­hen Philosophe­n Antonio Gramsci für ihre eigenen Werte, Positionen und Anschauung­en eine „kulturelle Hegemonie“anzustrebe­n? achen wir uns nichts vor: Es geht, gerade im Bereich der Kultur, immer wieder um Diskurshoh­eit, Definition­smacht und den Versuch, die eigenen Vorstellun­gen vom richtigen Leben und Denken anderen zu oktroyiere­n. Es gibt Werte und Moden, die abseits des geltenden Rechts über Medien, Bildungsei­nrichtunge­n und Institutio­nen durchgeset­zt und damit dominant werden können. Und zu den besonderen Pointen gehört, dass das Konzept einer multikultu­rellen Gesellscha­ft selbst Ausdruck einer mit Verve proklamier­ten neuen Leitkultur gewesen war, dem kaum widersproc­hen werden durfte. Die Realität hat anders entschiede­n. Vielleicht geht es doch ohne jede Leitkultur. Ein wenig Vernunft sollte genügen.

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