Trara, trara, die Leitkultur
Es wird wieder einmal über die Leitkultur debattiert und die vielfach geäußerte Kritik an diesem Konzept ist zweifellos berechtigt. Aber manches wird dabei vornehm übersehen.
ieder einmal erbebt die Medienlandschaft unter einer Leitkulturdebatte. Was die ÖVP bewogen hat, dieses Konzept aus vergangenen Tagen ans Licht zu holen, bleibt im Dunkeln. Aber man kann sich nun prächtig darüber echauffieren, dass eine Partei, die in letzter Zeit nicht gerade durch intellektuelle Großtaten aufgefallen ist, zweifelhafte Führungsansprü- che stellt. Diese Häme trifft zumindest einen wunden Punkt: Selbst wenn es einen annehmbaren Begriff von Leitkultur gäbe, wäre diese nichts, was ein Expertengremium ausbuchstabieren und eine Ministerin per Dekret durchsetzen könnte. och blenden wir kurz zurück. Die Forderung nach einer Leitkultur stammte ursprünglich von dem Islamwissenschaftler Bassam Tibi, der damit in den 90er-Jahren ein klares Programm verfolgte. Er dachte vor allem an Migranten aus muslimischen Gesellschaften, denen er durch dieses Konzept den Weg zu einem aufgeklärten Euroislam erleichtern und den Aufnahmegesellschaften die krisenanfällige Entwicklung von Parallelgesellschaften ersparen wollte. Tibi versammel- te unter diesem missverständ- lichen Begriff jene Prinzipien, an denen sich alle, die in einem westlichen Land leben wollen, orientieren sollten: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft. Natürlich: Viel davon ist in modernen Verfassungen verankert, doch
WDDist Universitätsprofessor i. R. am Institut für Philosophie der Universität Wien.
Lauter Lügen, Zsolnay-Verlag, 256 Seiten, 26,80 Euro diese Gesetze müssen mit Geist und Leben erfüllt werden. Das sieht im Alltag mitunter anders aus als am Papier. ieses Modell scheiterte aus zwei Gründen. Einmal, weil der Begriff der Leitkultur entgegen seiner ursprünglichen europäischen Ausrichtung von Nationalisten usurpiert wurde und plötzlich von einer deutschen, gar öster- reichischen Leitkultur und deren regionalen Besonderhei- ten die Rede war. Das konnte nur in jenen humorigen Debat- ten enden, die jetzt nach dem identitätsstiftenden Stellenwert von Schnitzel und Blasmusik fragen. Und zum anderen, weil die universalistischen Werte, an denen sich Tibi orientieren wollte, gerade von progressiven Kreisen in einem Anflug von Selbsterniedrigung zur Disposition gestellt und kaum noch verteidigt werden. Es gibt keine Anzeichen, dass sich daran etwas geändert haben könnte. Angesichts der Konflikte, die das Zusammenleben von Men- schen mit unterschiedlichen Grundüberzeugungen mit sich bringen kann, verkommt die Beschwörung einer ominösen lokalen Leitkultur zu einer hilflosen und peinlichen Geste.
Aber auf eines darf man schon aufmerksam machen: Die aktuellen Kritiker der Leitkultur weisen gerne darauf hin, dass die Idee eines Führungsanspruches mit dem dynamischen Charakter von Kultur nicht kompatibel sei. Kultur, so hört man, bedürfe keiner Direktiven, sie entfalte sich im regen Austausch. Wie aber kommt es dann, dass eifernd verfolgt wird, wer sich einer „kulturellen Aneignung“schuldig macht? Und ist es nicht verblüffend, dass nicht wenige Verächter der Leitkultur keine Probleme damit haben, im Sinne des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci für ihre eigenen Werte, Positionen und Anschauungen eine „kulturelle Hegemonie“anzustreben? achen wir uns nichts vor: Es geht, gerade im Bereich der Kultur, immer wieder um Diskurshoheit, Definitionsmacht und den Versuch, die eigenen Vorstellungen vom richtigen Leben und Denken anderen zu oktroyieren. Es gibt Werte und Moden, die abseits des geltenden Rechts über Medien, Bildungseinrichtungen und Institutionen durchgesetzt und damit dominant werden können. Und zu den besonderen Pointen gehört, dass das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft selbst Ausdruck einer mit Verve proklamierten neuen Leitkultur gewesen war, dem kaum widersprochen werden durfte. Die Realität hat anders entschieden. Vielleicht geht es doch ohne jede Leitkultur. Ein wenig Vernunft sollte genügen.
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