Not-Weiß-Not
Die Leitbild-Kampagne der ÖVP ist ein Ärgernis: Die Partei infantilisiert eine notwendige Debatte und verschuldet die Abschiebung ins Satirefach.
ie ÖVP ist miserabel drauf. Wer sich nicht als ihr ausgewiesener Widersacher begreift, muss Mitleid empfinden. Die Partei wirkt geistig und handwerklich auf eine Weise von der Rolle, dass es wehtut. Was sie in Angriff nimmt, scheitert spottverdäch- tig und blamabel. Dann bleibt ihr nur der verschämte Rückzug wie beim Zitierverbot oder ein hastiges Löschmanöver wie bei der missratenen Online-Kampa- gne für die Leitkultur. Selbst der Blasmusikverband, keine Keim- zelle linker Denkungsart, setzte sich gegen die platte Instrumentalisierung zur Wehr. Auch der grundvernünftige Soziologe Kenan Güngör entzog sich. Bei dieser Banalisierung wollte nie- mand Spalier stehen.
Natürlich ist es zulässig, in ei- ner Gesellschaft, die von Migra- tion geprägt ist, zu fragen, was sie im Inneren zusammenhält; was ihre Identitätsklammer ist; ob es jenseits unverwandter Le- bensweisen so etwas wie einen Wertekonsens geben sollte, als Verpflichtung nach innen und als normatives Angebot an die Hinzukommenden. Solchen Pro- zessen unterzieht sich jedes mo- dernes Unternehmen und jede
Dhubert.patterer@kleinezeitung.at
Wohngemeinschaft: Unternehmenskultur und Hausordnung nennt man sie dort. Im Kern geht es um dasselbe: Wie man zusammenleben will und wie nicht. Grundrecht und Verfas- sung sind hier gültige Leitplan- ken, aber sie allein sind womög- lich zu kühl gedacht.
Sie wären anzureichern um Maßstäbe des Humanen, um ge- schichtliche Prägungen, bürger- liche Tugenden wie Respekt und Rücksichtnahme, ethische Standards oder zivilisatorische Übereinkünfte: Ob es das „Unrei- ne“geben darf. Die Ablehnung weiblicher Autoritäten. Das Messer im öffentlichen Raum. Das Kopftuch im Klassenzim- mer. Um das Christliche selbst muss kein Wall gezogen wer- den: Es trocknet von innen aus, nicht durch einen offensiven Is- lam, sondern durch leere Kir- chen. Es sollte also bei der De- batte weder um trotzige kultu- relle Hegemonie gehen noch um
Kulturrelativismus, dem im doppelten Sinn alles gleich ist. „Wären alle Kulturen gleichwertig, wäre Kannibalismus nur eine Frage des Geschmacks“, sagt der Autor Leon de Winter. eitkultur ist keine Wortschöpfung der Rechten. Der in Syrien mit dem Koran aufgewachsene Humanist Basam Tibi hat den Begriff vor Jahren in die Debatte eingeführt. Der Weltenverbinder will Europa und sein Erbe vor einem politischen Islam schützen, der die Religion totalitär auflädt. Er sagt: Integration kann mit bloßer Fremdenliebe nicht gelingen. Europa könne Muslime integrieren und gleichzeitig seine Identität bewahren, wenn es einen europäisierten Islam, der sich von der Scharia löst, verzahne mit einer Leitkultur in Form eines integrativen Wertekonsenses. Tibi geht es um das Angebot einer Bürgeridentität, die sich über gemeinsame Werte definiert. Europa ist ihm nicht gefolgt. Nicht die Linken und nicht die Rechten. Sie haben Tibis aufklärerische, vernunftbetonte Leitkultur folklorisiert und eingeschmolzen auf billige, infantile Brauchtumsspießigkeit. Wie die Maibaum-Sujets der ÖVP.
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