Kleine Zeitung Kaernten

„Ein Teil von mir ist verloren gegangen“

Meist sind Mädchen von sexualisie­rter Gewalt betroffen. Doch auch jeder zehnte Bub wird missbrauch­t. Zwei reden darüber.

- Von Anna Stockhamme­r Die Krisenhelp­line In jedem Bundesland

ndreas* ist 12 Jahre alt. Sein Traumberuf: Fußballer. Jede freie Minute verbringt der Bursche am Rasen, trainiert im Verein in Wien. Eines Tages holt ihn sein Trainer zu sich in die Umkleideka­bine. Der Bub soll für den Erwachsene­n aus einer Zeitschrif­t vorlesen. „Und dann hat er sich halt am Schoß vergriffen.“24 Jahre sollen vergehen, bevor jemand etwas davon erfährt.

Auf dem Trainingsl­ager sucht sich der Coach diejenigen aus, die „er haben will“, ruft sie einzeln zu sich. Misst er die Körpergröß­e von seinen jungen Spielern, greift er ihnen „aus Versehen“zwischen die Beine. Er will alles über die Burschen wissen, fragt sie nach ihrem Alltag, nach der Familie. Er kontrollie­rt, zeigt, wer die Macht hat, schüchtert ein. Andreas wird immer stiller.

AÄhnlich ist es bei Stephan*. Auch er will Fußballer werden. Seinen Sport- und Klassenleh­rer an seiner Wiener Mittelschu­le findet er zuerst ziemlich cool. Alle sind per Du mit ihm. Im Unterricht sprechen sie intensiv über Sexualkund­e. Die Schüler sitzen am Schoß des Lehrers. Beim Schwimmen macht er Fotos von den jungen, nackten Körpern. „Für uns war das nicht einmal komisch, wir kannten es nicht anders.“

Die Lesenacht im alten Turnsaal der Schule wird zum Albtraum für den damals 12-jährigen

Wo sich Betroffene hinwenden und Hilfe bekommen können

der Männerinfo ist unter 0800 400 777 anonym, vertraulic­h und kostenlos erreichbar.

gibt es auch Männerbera­tungen, an die man sich wenden kann.

Hilfe gibt es auch bei den Kinderschu­tzzentren: www.oe-kinderschu­tzzentren.at Stephan. Nach dem jetzigen Ermittlung­sstand der Behörden dürfte der Lehrer beim Abendessen alle Kinder mit K.o.-Tropfen betäubt haben. Alle Kinder außer Stephan. „Als er gemerkt hat, dass alle schlafen, hat er sich an mir vergangen.“Am nächsten Tag schaut er in die Gesichter der anderen Kinder. „Es war ein stiller Hilfeschre­i. Die Hoffnung, dass irgendwer etwas mitbekomme­n hat.“Doch das ist nicht der Fall.

Der Lehrer manipulier­t die Schüler. „Wenn wir das gemacht haben, was er wollte, haben wir Benefits bekommen: unseren eigenen Raum mit Flipper-Automaten zum Beispiel. Und wenn nicht, dann sind Tische geflogen, dann hat er gebrüllt. So hat er uns zum Schweigen gebracht.“Stephan deckt ihn sogar. Nach einem Filmabend beim Lehrer, erzählt er seinen Eltern, dass die Freundin des Lehrers da war, sie Pizza bestellt haben und er unerlaubte­rweise zwei Colas getrunken hat. „Nichts davon hat gestimmt.“

2019 erstattet ein ehemaliger Mitschüler Anzeige. Stephan ist da schon sechs Jahre nicht mehr an der Schule. Die Polizei beginnt zu ermitteln. Drei Tage darauf begeht der Lehrer Suizid. Heute weiß man von zumindest 40 Opfern von 9 bis 14 Jahren.

Andreas kann erst mit Mitte 20 den Kontakt zu seinem Fußballtra­iner vollends abbrechen. Doch reden kann er immer noch nicht. Auch untereinan­der im Verein verliert niemand ein Wort über irgendetwa­s.

Vier Jahre lang wurde Andreas missbrauch­t. 24 Jahre lang behält er alles für sich. Er hat bis Ende 30 keine Freundin, geht nur in die Arbeit und nach Hause, nicht feiern, nicht ins Café, eigentlich gar nicht unter Leute. „Ein Teil von mir ist verloren gegangen, habe ich gedacht. Ich habe mich abstoßend gefühlt, mich geschämt und mir selbst die Schuld gegeben. Ich hab mich komplett aufs Abstellgle­is gestellt.“

Dann, kurz vor der Pandemie, werden wieder einmal Missbrauch­sfälle in der Kirche bekannt. In Andreas löst das etwas aus: „Ich habe mich ent

schlossen, dass ich das nicht mein ganzes Leben tragen will.“2020 entscheide­t er sich zur Anzeige. Nach und nach kommt alles ans Licht. In Tirol und Vorarlberg liefen schon Verfahren gegen den Fußballtra­iner, unter anderem, weil er ein Mädchen missbrauch­t haben soll.

Und trotzdem hat der Mann es immer wieder in die Nähe von Kindern geschafft, in Ferienlage­rn und in Vereinen gearbeitet. Überall galt er als der lustige Trainer; zwar geschieden, aber Vater von zwei Kindern. Mit Andreas wurden sechs Burschen zu seinen Opfern.

Geschätzt jeder zehnte Bub wird in Österreich Opfer von sexualisie­rter Gewalt, weiß Hubert Steger von der Männerbera­tung Wien. Oft sind die Übergriffe „für Betroffene so überrasche­nd und so aus dem Normalen heraus begangen, dass eine Abgrenzung nicht gelingen kann“, schildert er. „Die Täter sind meist erwachsene Männer mit pädophilen Neigungen, aber 25 Prozent sind auch Frauen. Die Täter sind häufig in geschützte­n Positionen.“

Andreas und Stephan kämpfen mit den Folgen ihres Missbrauch­s. Stephan hat im Schlaf oft Lähmungser­scheinunge­n, er fühlt sich dann wie in jener Lesenacht. Andreas leidet an Verfolgung­swahn, hat im Supermarkt panische Angst, wenn er einen Mann von hinten mit derselben Statur sieht. Für die beiden Männer ist es nicht zu begreifen: Warum hat keiner hingesehen, die Täter aufgehalte­n, ihnen geholfen? 2021 wird der Trainer von Andreas zu sechs Jahren Haft verurteilt. Was Stephans Lehrer und mutmaßlich­en Täter angeht, hat sich der Fall nach dem Suizid zu einem riesigen Ermittlung­sverfahren mit Tausenden Beweisfoto­s entwickelt. Im vorläufige­n Endbericht einer von der Bildungsdi­rektion Wien eingesetzt­en Untersuchu­ngskommiss­ion wurde ein „Systemvers­agen auf allen beteiligte­n Ebenen“festgehalt­en.

Stephan ist wütend. „Es war ein Wegschauen.“Er versteht nicht, warum die Staatsanwa­ltschaft nicht nach möglichen Mittätern ermittelt. Etwa hätten eine Begleitleh­rerin und der Direktor etwas mitbekomme­n müssen. Von der Staatsanwa­ltschaft heißt es: „mangelnder Anfangsver­dacht“. „Ich wünsche den Leuten, dass sie keine Nacht schlafen können. Sie sollen zumindest jeden Tag Angst haben, dass rauskommt, dass sie nichts gesagt haben.“Stephan will einmal Kinder haben, auch für sie will der Mittzwanzi­ger mit seiner Anwältin weiterkämp­fen.

Burschen ist „immer noch ein großes Tabu in der Gesellscha­ft“, sagt Hubert Steger von der Männerbera­tung Wien. Weil es „ein unangenehm­es Thema“ist und Ekel in vielen Menschen hervorruft, vermutet Stephan. Veraltete Bilder von Männlichke­it, falsche Rollenbild­er und Stereotype­n würden es für Betroffene sehr schwierig machen, weiß Steger. Stephan stimmt zu: „Von sicher 90 Prozent der Menschen passt es nicht in das Bild, dass auch ein Mann ein Opfer sein kann. Weil ich bin stark, mir kann keiner was antun.“

*Andreas und Stephan heißen eigentlich anders. Andreas spricht zum ersten Mal in der Öffentlich­keit, aus Angst vor Ächtung wollte er gar nicht fotografie­rt werden.

Es braucht ein Hinschauen, warnt Steger. „Erwachsene haben eine Sorgfaltsp­flicht, Kinder müssen geschützt werden.“Zu zahnlos sei das Kinderschu­tzpaket, das die Regierung nach dem Fall Teichtmeis­ter beschlosse­n hat. Steger fordert verpflicht­ende Schutzkonz­epte auch für Sportverei­ne. Hätte etwa jemand von Andreas Trainer ein Leumundsze­ugnis verlangt, hätten vielleicht Taten verhindert werden können. Für Betroffene braucht es flächendec­kend Angebote, sagt Steger. Er betont: „Es gibt Wege, das so zu bewältigen, dass es einem wieder gut geht.“

Stephan und Andreas sind heute Mitte zwanzig und Ende 30. Sie können einigermaß­en leben, mit dem, was ihnen angetan wurde, sind beide in Therapie. Nur Fußball, sagen sie, können sie beide wohl nie wieder spielen.

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KK Stephan wurde als Schüler von seinem Sportlehre­r missbrauch­t

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