Eine Milliarde schreitet zu den Urnen
In Indien steht Premier Modi vor einer erneuten Amtszeit. Sein Land hat es zur ernsthaften China-Alternative geschafft.
er die Dimension ungefähr verstehen möchte, muss in der EU anfangen. Rund 350 Millionen Menschen aus 27 Ländern sind bei den EU-Wahlen im Juni wahlberechtigt. Rund eine Milliarde – also dreimal so viele Menschen – werden ab Freitag alleine in einem Land, nämlich Indien, zur Wahlurne schreiten. Eine schnelle Angelegenheit ist die Parlamentswahl in der größten Demokratie der
Welt aber nicht. Die logistischen Herausforderungen sind enorm, der Wahlprozess erstreckt sich über mehrere Wochen. Von den eisigen Höhen des Himalaja bis zu den tiefen Dschungeln im Süden – jede Stimme zählt.
Dass Narendra Modi, der seit rund zehn Jahren im Amt ist, mit seiner Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) wiedergewählt wird, daran zweifeln die wenigsten. Er genießt hohe Zustimmung, gilt gar als beliebtester Regierungschef
Winnerhalb der G20-Staaten. 80 Prozent stimmen Modis Politik zu. Bei Macron und Scholz sind es rund 20. Der indische Premier reitet auf einer Erfolgswelle. Er hat ein Land, das im Westen bei vielen noch immer für Ausbeutung und Armut steht, zu einer Weltnation gemacht, die das Zeug hat, die Zukunft des Globus als Militär- und Wirtschaftsmacht entscheidend mitzuprägen. Ein regelrechter Hype um Indien ist in den letzten Jahren losgebrochen. Für den Politikwissenschaftler Herfried Münkler ist Indien das potenzielle „Zünglein an der Waage“in einer neuen Weltordnung, die nicht bloß von Russland und den USA getragen wird, sondern aus fünf Großmächten besteht: den USA, China, Russland und Europa – und eben Indien.
Das Land in Südasien versteht es mittlerweile, sich sowohl im Salon des Westens zurechtzufinden als auch als selbstverständliche Kraft des globalen Südens aufzutreten. Dass Indien bis heute keine Anstalten macht, Russlands Krieg sanktionieren zu wollen? Geschenkt. Indien ist der neu auserwählte große Bruder des Westens. Indien darf beides. ür die USA ist Indien ein willkommener Partner im Kampf gegen China, für Europa ein lukrativer Wirtschaftspartner, der dabei hilft, nicht unter dem Joch von Xi Jinping zu erstarren. Nicht von ungefähr wird bereits seit Längerem an einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien gebastelt. „Die historisch bedingte Rivalität zu China hat Indien zu einem ganz wesentlichen Sicherheitspartner der USA gemacht. Für Europa wird Indien wirtschaftlich immer wichtiger, weil man sich Sorgen vor einer zu großen Abhängigkeit vom chinesischen Markt macht“, erklärt Johannes Plagemann, Politikwissenschaftler
Fam German Institute for Global and Area Studies in Hamburg gegenüber der Kleinen Zeitung.
Von der Planwirtschaft nach der Unabhängigkeit 1947 ist in Indien heute wenig übrig. Zwischen 2014 und 2023 konnte Modis Regierung ein durchschnittliches Wachstum der Wirtschaftsleistung von 5,8 Prozent pro Jahr vorweisen. Noch in diesem Jahrzehnt wird Indien zur Weltwirtschaftsmacht Nummer drei aufsteigen. Während anderswo die Mittelschicht wegbricht, erstarkt sie in Indien. Behutsam, aber gleichzeitig bestimmt, hat Modi den Staat in Richtung Privatisierung gelotst. „Indiens Regierung stand Ende der 1980er-Jahre vor einem wirtschaftlichen Totalschaden. Seitdem ist die Volkswirtschaft liberalisiert worden, der internationale Handel hat zugenommen. Eine Vielzahl von
Software-Unternehmen hat zum Wachstum beigetragen“, erklärt Plagemann. Auch die Demografie spricht für das Land. Während Chinas Bevölkerungszahl rückläufig ist, zeigen Prognosen der UN, dass jene von Indien konstant bleiben. „Im Unterschied zu den ostasiatischen Staaten ist die indische Bevölkerung jung, auch das befördert das Wachstum“, sagt Plagemann, der mit „Wir sind nicht alle“vor Kurzem sein jüngstes Buch über die Rolle des globalen Südens veröffentlicht hat. och wo Chancen warten, da lauern auch Fallstricke. Im Falle Indiens ist es neben dem historischen Konflikt mit Pakistan nicht zuletzt die Ideologie der amtierenden BJP-Partei und der Personenkult um Premier Modi. Kritiker werfen der BJP vor, das laut Verfassung säkulare Indien in einen
Dhindu-nationalistischen Staat verwandeln und die muslimische Minderheit marginalisieren zu wollen. Die muslimische Minderheit macht mit 160 bis 180 Millionen Gläubigen knapp 15 Prozent der Bevölkerung aus. ie Spannungen zwischen den Hindus und den Muslimen haben viele Ursachen. Eine davon zeigt sich unter anderem im Citizenship Amendment Act (CAA), dieser soll nichtmuslimischen Einwanderern eine schnellere Einbürgerung ermöglichen. Kritiker sehen ihn als antimuslimisch, weshalb er nach massiven Protesten auf Eis gelegt wurde. Gegner sagen, dass der Glaube nicht zur Bedingung für eine Staatsbürgerschaft werden kann. Dass das Gesetz, nachdem es so lange ruhend gelegen ist, kurz vor der Wahl doch in Kraft
Dtritt, sorgt für Verwunderung. Plagemann erklärt, dass bei den vergangenen Wahlen 2014 und 2019 nur eine relative Mehrheit von unter 40 Prozent tatsächlich für die BJP gestimmt hat: „Für einen Wahlsieg Modis spricht der schlechte Zustand der Opposition. Die ist zersplittert und uneins. Sie wird zudem mehr denn je von staatlichen Stellen drangsaliert, ein Anzeichen des Verfalls demokratischer Standards in Indien.“Der Politikwissenschaftler betont, dass in einem sprachlich, religiös, ethnisch und kulturell so heterogenen Land wie Indien die Verteidigung der Vielfalt einen hohen Wert hat. Zum Beispiel in Form des Föderalismus mit seinen starken regional verankerten Parteien. „Hier wirken der Nationalismus der BJP und Modi selbst als Bedrohung“, analysiert Plagemann.