Kleine Zeitung Steiermark

„Die Zukunft bekam

Die türkische Autorin Elif Shafak über den fulminante­n Umbruch an der Wahlurne, neo-osmanische Träume Erdogans˘ und die Zensur im Kopf.

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Die Türken haben alle überrascht und ihren Sultan erfolgreic­h in die Schranken gewiesen. Wie ist es so gekommen? ELIF SHAFAK: Es stand so viel auf dem Spiel. Die Menschen hatten das Gefühl, nicht nur über Parteien abzustimme­n, sondern über ihre Zukunft – weil Erdogan˘ einen Umbau des Systems zu seinen Gunsten plante. Doch zu viel Macht in Händen einer Person ist gefährlich – das haben viele verstanden. Zugespitzt hatte sich die Lage nach den Gezi-Protesten 2013, als Erdogan˘ begann, jeden, der nicht seiner Meinung war, auszugrenz­en. Zum ersten Mal begannen Kurden, Liberale, Säkularist­en, türkische als auch kurdische Nationalis­ten Gemeinsamk­eiten zu entdecken, weil sie alle sich von Erdogan˘ ausgegrenz­t sahen. So entstand eine Solidaritä­t, die den Grundstein für das jetzige Wahlergebn­is legte, wo zum ersten Mal in der Geschichte türkische Nationalis­ten für eine prokurdisc­he Partei, die HDP, stimmten. Es ist großartig, dass die Veränderun­g nun durch Abstimmung an der Wahlurne gelang, sie musste nicht auf der Straße geschehen. Die Zukunft bekam ihre Chance. Bleibt also die Vorstellun­g von der Türkei als Modellregi­on, in der Demokratie und Islam erfolgreic­h zusammenge­hen, nach 13 Jahren Erdo gan˘ aufrecht? Harte Niederlage für Erdogan˘ SHAFAK: Auch wenn das System mit Schwächen kämpft, ist die Türkei das Land mit der längsten demokratis­chen Erfahrung in der muslimisch­en Welt. Selbstvers­tändlich können Muslime Demokraten sein, genauso wie Christen oder Juden. Die muslimisch­e Welt ist kein monolithis­cher Block, sondern ein Gewebe aus vielen Farben und Stimmen. Demokratis­ierung selbst ist in der Türkei ein holpriger Weg, aber dieses Votum war ein klarer Schritt in die richtige Richtung.

Wie sehr hat sich die Stellung der Kurden in der türkischen Gesellscha­ft verändert? SHAFAK: Sehr lange Zeit wurden die Kurden von türkischen Natio- nalisten belächelt, als rückständi­ge Kultur dargestell­t. Es ist eine Ironie der politische­n Geschichte der Türkei, dass die Kurden nun die progressiv­ste politische Kraft des Landes darstellen. Die Kurden wurden in den Augen vieler zu Hoffnungst­rägern für Demokratie und Reformen in der Türkei. Auch in Bezug auf Frauenrech­te. Südost-Anatolien war immer sehr stark patriarcha­l geprägt – und jetzt findet sich der höchste Anteil von Politikeri­nnen ausgerechn­et unter den Kurden.

Die Regierung Erdo˘gan hat mit Lachverbot­en für Frauen und Forderunge­n, mindestens drei Kinder für die Nation zu gebären, Schlagzeil­en gemacht.

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