Kleine Zeitung Steiermark

Eine Chance“

- I NTERVIEW: NINA KOREN

SHAFAK: Was Frauenrech­te angeht, sind wir zurück in die Vergangenh­eit marschiert. Die Fälle häuslicher Gewalt sind dramatisch angestiege­n, und die Regierung hat nichts dagegen unternomme­n. Der Verfassung­sgerichtsh­of hat die Vorschrift abgeschaff­t, dass religiöse Trauungen auch eine staatliche erfordern. Dadurch werden Ehen mit Minderjähr­igen und Polygamie erleichter­t. Ich sehe das sehr kritisch.

Wie geht es Ihnen als stellerin in der Türkei? SHAFAK: Wenn Kritiker über den Text einer Frau schreiben, wird die Autorin zuerst als Frau wahrgenomm­en und schlecht gemacht, daran erinnert, wo ihr

Schrift- Platz ist. Autorin in der Türkei zu sein, ist ein ständiges Ringen mit einer Unzahl an Stereotype­n, Klischees und Beschimpfu­ngen.

Sie wurden 2006 nach Veröffentl­ichung Ihres Romans „Der Bastard von Istanbul“wegen „Beleidigun­g des Türkentums“angeklagt. Wie gehen Sie damit um? SHAFAK: Ich hatte über die Massaker an den Armeniern 1915 geschriebe­n und wurde deswegen vor Gericht gestellt – mein Anwalt hatte die Aussagen meiner fiktiven armenische­n Romanfigur zu verteidige­n, die gegen mich als Autorin verwendet wurden. Das war eine kafkaeske Erfahrung. Eines ist klar: Jeder Journalist, jede Schriftste­llerin in der Türkei weiß, dass Worte mächtig und gefährlich sind, dass man für sie angeklagt werden kann. Das führt zu sehr viel Angst. Wenn ich einen Zeitungsar­tikel schreibe, gibt es diesen Teil in mir, der fragt: Wird mich das jetzt in Schwierigk­eiten bringen? Es wäre unehrlich, zu behaupten, diese Gedanken würden nicht in mir auftauchen. Wenn ich fiktionale Texte schreibe, inmitten eines Romans stecke, lebe ich in dieser imaginären Welt, in der ich mich freier, mutiger fühle, weil ich die äußere vergesse.

In Ihrem Schreiben spielt die traditione­lle osmanische Sprache, das alte Osmanische Reich eine große Rolle – auch Erdo˘gan ist ein großer Anhänger der osmanische­n Vergangenh­eit. SHAFAK: Wir haben da sehr unterschie­dliche Zugänge. Die Türkei ist ein Land, in dem Amnesie herrscht. Die Beziehung zu unserer Geschichte ist voller Brüche. Die Regierung nutzt romantisie­rende osmanische Rhetorik. Ich glaube nicht, dass irgendjema­nd diesen Traum von einer neo-osmanische­n Türkei brauchen kann, in dem es um den Wunsch geht, die eigene Machtposit­ion im Nahen Osten auszubauen. Ich interessie­re mich für unsere Vergangenh­eit, aber ich möchte sie auch kritisch betrachten dürfen.

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