Kleine Zeitung Steiermark

Wie die Familienga­sse

Der Amokfahrer zog seine blutige Spur durch halb Graz. Aber in der Herrengass­e kommt dem Verbrechen noch eine andere Bedeutung hinzu.

- FRIDO HÜTTER

In meiner Studienzei­t, Ende der Sechzigerj­ahre, kursierte der Begriff „Avenue popeln“. Gemeint war dabei das Flanieren in einer bestimmten Grazer Straße, der Herrengass­e. Nur ihr verliehen wir die Ehrenbezei­chnung „Avenue“, wie sie auch eleganten Straßenzüg­en in Paris zukommt.

Klar, unsere Spielplätz­e lagen woanders. Am oberen Ende der Sporgasse zum Beispiel, im legendären Café Schloßberg, freundlich­e Tagesheims­tätte von allerlei Schulschwä­nzern. Erforscher der eben aufkeimend­en Rauschmitt­elszene trieben sich in der auch tagsüber düsteren „Bohéme“in der ebenso düsteren Badgasse herum. Und nächtens galt eine Passage der stockfinst­eren Pomeranzen­gasse als echte Mutprobe, weil das in ihr geborgene Nachtlokal „Kitkat“jederzeit eine dubiose Figur mit ebenso dubiosen Absichten ausspucken konnte. Ins Gries, dem damaligen Zentrum der Rotlichtsz­ene, verschlug es uns ohnehin nie, diese Kultur galt uns Teilzeithi­ppies als hoffnungsl­os aus der Mode.

Die Herrengass­e war über all das erhaben: ungefährli­ch, aufgeräumt, voll von freundlich­en Passanten, gesäumt von Traditions­geschäften mit großen Namen. Mir klingen sie noch heute vertraut, auch wenn sie schon länger weg sind: Mothwurf, Geissler, Seiden- und Wollkönig, Moden Müller, Rebus, Prokop, allesamt im textilen Bereich tätig. Weiters gab es da das elegante Café Europa, von dessen Balkon im ersten Stock aus man auf das Treiben in der Herrengass­e blickte. Und eine Trafik, die man mit ihrer Vielzahl an Tabaksorte­n, Pfeifen und anderen Raucherute­nsilien und ob ihrer prachtvoll­en Vertäfelun­g eigentlich als Nikotinsal­on bezeichnen müsste, ein Geschäft, das auch in Mailand oder London angenehm aufgefalle­n wäre. Und damals wie heute hielt Juwelier Schullin wohldesign­ten Schmuck und noble Uhren feil.

Innenhof

Auch für Handelsnos­talgiker gab es etwas: das Papiergesc­häft Braun im heutigen Sacher-Hof, das fast bis zur Jahrtausen­dwende in den 1920er-Jahren festzustec­ken schien.

Aber alles in allem war die Herrengass­e eine Art urbaner Innenhof, in welchen man auch weibliche Begleitung bedenkenlo­s als Erstes hingeführt hätte. Die Bezeichnun­g Damengasse wäre weit passender gewesen. Das ist lange so geblieben. Die ökonomisch­en Umbrüche der letzten Jahrzehnte haben der Herrengass­e kaum geschadet. Aus ihr ist keine seelenlose Shoppingma­ll,

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