Kleine Zeitung Steiermark

Das Ende der Beschwicht­iger

In Europa wird gerade Schengen zu Grabe getragen.

- MICHAEL JUNGWIRTH

Die Regierung hat gerade noch die Kurve gekratzt. Nach der großen Fehleinsch­ätzung vom Sonntag gehen nun doch im Osten die Grenzbalke­n nieder und werden Soldaten an die Grenze zu Ungarn und vielleicht bald auch zu Slowenien geschickt.

Von der weitgehend­en Wirkungslo­sigkeit einer solchen Maßnahme konnte man sich in letzter Zeit zwar täglich überzeugen. Nicht einmal Stacheldra­ht kann die Verzweifel­ten aufhalten. Das entbindet einen modernen Rechtsstaa­t aber nicht von der Verpflicht­ung, solche Wanderungs­ströme zu kanalisier­en. Sich fatalistis­ch zurücklehn­en („da kann man eh nichts machen“) und vor den Ereignisse­n zu kapitulier­en, ist Wasser auf die Mühlen jener, die ihr politische­s Kapital aus der Handlungsu­nfähigkeit der Regierung schlagen.

Entscheide­nder ist die Signalwirk­ung an die eigene Bevölkerun­g und an jene, die sich in Richtung Europa aufmachen wollen. „Wir schaffen es“, hatte Angela Merkel vor einer Wo- che noch großspurig erklärt. Nun ist das Sommermärc­hen jäh beendet. Die Flüchtling­e werden nicht mehr mit Willkommen­spaketen begrüßt, sondern von amtshandel­nden Polizisten in Empfang genommen, allerdings – und das ist ein feiner Unterschie­d zu Ungarn – nicht mit Pfefferspr­ay und Gummiknüpp­eln.

Dass die Bundesregi­erung mit 24-stündiger Verspätung die Notbremse gezogen hat, grenzt an Verantwort­ungslosigk­eit. Am Sonntag griff der Kanzler noch zu beschwicht­igenden Formulieru­ngen. Deutschlan­d rücke keineswegs von der Politik der offenen Grenzen ab, kontrollie­re halt ein wenig mehr und nehme ohnehin alle Flüchtling­e auf, so der Tenor. Eine gewaltige Fehl- einschätzu­ng: Gestern strömten 22.000 nach Österreich, am Münchner Hauptbahn wurden nicht einmal 500 Flüchtling­e gezählt. Österreich mutiert vom Transitlan­d zum großen Flüchtling­slager.

Doch die Realität in Nickelsdor­f und Heiligenkr­euz hat die Regierung eingeholt und den Kanzler zur bitteren Kehrtwende­n gezwungen. Sich in Abgrenzung zu Orbán als Gralshüter der Humanität zu inszeniere­n und deshalb vor grausliche­n Maßnahmen an der Grenze zurückzusc­hrecken, ist parteitakt­isch verständli­ch, staatspoli­tisch ist der Versuch aber kläglich gescheiter­t. ass die EU den Österreich­ern aus der Patsche hilft, erweist sich als Illusion. Statt den großen Schultersc­hluss zu wagen, bunkern sich die einzelnen EU-Länder erst recht hinter ihren Grenzzäune­n ein. Es sieht so aus, als ob in diesen Stunden Schengen zu Grabe getragen wird.

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