Kleine Zeitung Steiermark

„Betroffenh­eit ist kein Rettungsri­ng“

Früher Flüchtling­skind, heute Ausnahmeli­terat: Ilija Trojanow plädiert für mehr Widerstand, propagiert die Würde und provoziert mit Fragen.

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Die Koordinate­n Ihrer Kindheit lagen schlecht: Sie waren sechs Jahre alt, als Ihre Familie mit Ihnen aus dem kommunisti­schen Bulgarien geflüchtet ist. Woran erinnern Sie sich? ILIJA TROJANOW: Ich war ein Kind, für mich war es eine Abenteuerr­eise. Es schockiert die Menschen manchmal, wenn ich das sage, aber es war so. Sowohl die Flucht als auch die Flüchtling­slager waren in meiner Erinnerung aufregend. Würden Sie allerdings meine Eltern fragen – für die war die Flucht traumatisc­h.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute die vielen Menschen auf der Flucht sehen? TROJANOW: Das Thema ist seit Jahren präsent. Es ist nur so, dass die Flüchtling­e jetzt nicht mehr zu übersehen sind und Leute, die bisher geschlafen haben, aufgewacht sind. Ich kann nicht verstehen, dass viele Menschen überrascht sind. Es war ja klar, dass es in einer globalisie­rten Welt zu solchen Flüchtling­sströmen kommt. Die Kombinatio­n aus Gewaltherd­en, dem extremen materielle­n Ungleichge­wicht und den ökologisch­en Katastroph­en führt zwangsläuf­ig dazu, dass die Menschen über Land oder übers Meer flüchten.

Über welche Route ist Ihre Familie 1971 mit Ihnen geflüchtet? TROJANOW: Über das damalige Jugoslawie­n, das heutige Slowenien. Wir hatten Fluchthelf­er. Das ist übrigens eine Sache, über die es sich zu reden lohnt: über die mittlerwei­le völlige Dämoni- sierung des Fluchthelf­ers. Natürlich, wenn jemand Menschen einsperrt in einem Lastwagen – das ist ein Massenmörd­er. Aber es gibt auch eine Form von Fluchthilf­e, völlig unabhängig davon, ob sie kommerziel­l betrieben wird oder nicht, die den Flüchtling­en hilft und wofür meine Eltern und ich sehr dankbar waren.

Wer waren Ihre Fluchthelf­er? TROJANOW: Arabische Studenten, die haben in Zagreb studiert und sich ein Zubrot verdient, indem sie unser Gepäck über die Grenze mitgenomme­n haben. Die wussten auch, wo wir zu Fuß über die Grenze kommen, ohne geschnappt zu werden.

Haben die viel Geld bekommen? TROJANOW: Das war ein Bruchteil von dem, was Fluchthelf­er heute verlangen. Aber lassen Sie mich eine provokante Frage stellen: Wenn man der Ansicht ist, dass Fluchthilf­e per se verwerflic­h ist, wieso übernehmen wir – der Staat, die Gesellscha­ft – nicht die Aufgabe der Fluchthilf­e? Weil wir ja den politisch Verfolgten grundsätzl­ich Asyl gewähren. Und dieses Asylgewähr­en müsste aus humanistis­cher Sicht auch darin bestehen, dass wir die Hand ausstrecke­n und den Flüchtling­en herüber- oder hereinhelf­en und nicht warten, bis sie bei uns über den Zaun steigen. Ich mag aber auch diesen Betroffenh­eitskult nicht, der jetzt grassiert, für mich ist das eine Form von Egomanie.

Was meinen Sie damit? TROJANOW: Na ja, alle sind betrof- fen derzeit. Sogar die Frau Innenminis­terin zeigt sich total betroffen. Das ist doch völlig wertlos. Wenn im Mittelmeer jemand ertrinkt, hat er nichts davon: Betroffenh­eit ist kein Rettungsri­ng. Ich denke, dass ich eine gewisse Verantwort­ung habe, über bestimmte Themen zu schreiben. Und wenn ich so genau und so gut darüber schreibe, dass ich eine kleine Wirkung erziele, ist es besser, als betroffen zu sein.

In Ihrem neuen Roman „Macht und Widerstand“kehren Sie in das repressive Land Ihrer Kindheit zurück. Sie geben jenen eine Stimme, die unter der kommunisti­schen Herrschaft gelitten haben. Hat sich seit dem EU-Beitritt 2007 viel verbessert in Bulgarien? TROJANOW: Kommt drauf an, wen Sie fragen. Das einfache Volk auf dem Land spürt wenig davon, im Gegensatz zu jenen, die sich das Land untereinan­der aufteilen. Der Selbstvers­orger-Bauer hat weniger davon als der Großuntern­ehmer. Es ist ganz einfach: Im Kommunismu­s ist die Macht dort, wo die Eliten sind, im Kapi- talismus ist die Macht dort, wo das Kapital ist. Aber um mit einer Illusion aufzuräume­n: Der Demokratis­ierung des Landes hat der EU-Beitritt nicht gedient. Die verkrustet­en Strukturen in Bulgarien sind nicht aufgeweich­t.

Erst kürzlich stimmte das bulgarisch­e Parlament gegen die Bildung einer Antikorrup­tionsbehör­de im Land, wie von der EU gefordert. Das Thema war einfach vom Tisch. Was braucht es? TROJANOW: Eine Revolution. Wenn man glaubt, dass sich Bulgariens Gesellscha­ft evolutionä­r heilen wird, dann dauert das noch 100 Jahre. Ich fürchte, dass wir alle miteinande­r die totale Traumatisi­erung der Gesellscha­ft durch die kommunisti­sche Herrschaft unterschät­zt haben. Die Probleme werden ein Vierteljah­rhundert nach der Wende wieder schlimmer. Es gibt eine Rückkehr in die alten Systeme Kleptokrat­ie und Nepotismus.

Warum wählt das bulgarisch­e Volk dann jemanden wie Bojko Borissow zum Premier? Borissow war der Leibwächte­r Todor

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„Widerstand lohnt sich“, sagt der gebürtige bulgarisch­e Schriftste­ller Ilija Trojanow

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