Mysteriöse, einsame Zehe
Sprachwitz in Händls „Dunkel lockende Welt“.
GRAZ. Nein, wie unangenehm! Da bemüht sich Tamara Belic als die junge Ärztin Dr. Schneider, ihre Wohnung blitzeblank an den Hausherrn zu übergeben, und übersieht dabei eine verwaiste kleine Zehe. Ihren verschlagenen, undurchsichtigen Vermieter mimt Alexander Mitterer, der auch für die Regie verantwortlich ist. Komplettiert wird die Konstellation von Klaudia Reichenbacher als Schneiders Mutter und stur deklamierende Botanikerin.
Die „dunkel lockende Welt“, in die der in Tirol geborene Dramatiker Klaus Händl seit der Uraufführung 2006 landauf, landab entführt, ist ein zweischneidiges Schwert. Hier perfide und gefährlich, dort durchzogen von einem morbiden Sprachwitz, der nie ins Lächerliche abgleitet. Ein Dramentext, der die Versatzstücke über die Bühne rauschen lässt: von Foucault, finnischer Folklore bis zu Grundlagen der Fotosynthese. Die drei Darsteller nehmen den Impuls der Vorlage präzise auf und lassen sich auf das wortgewandte Kokettieren mit dem Mysteriösen ein. Dialogisch entstehen Sätze, an deren Beginn noch nicht zu erahnen ist, wohin sie am Ende führen. Wo das Fragment ein Teil des Prinzips ist, dort gibt es keine Gewissheiten mehr. Oder: „Nach und nach lässt alles nach.“ Dunkel lockende Welt. Eine Produktion von Theater Kaendace im dramagraz 7., 8., 11., 12., 14., 15., 16. 4., 20 Uhr. Schützgasse 16, Graz. Karten: Tel. 0681 102 67 208. theaterkaendace. at
Ihrem Roman „Bagdad Marlboro“stellen Sie ein Zitat von Italo Calvino voran, in dem es sinngemäß heißt: Entweder man akzeptiert die Hölle und wird Teil von ihr oder man konzentriert sich auf das, was inmitten der Hölle nicht Hölle ist. Wieso ist Ihnen dieses Zitat so wichtig? NAJEM WALI: Die Hölle ist ein Teil des Lebens. Ohne Hölle kein Paradies. Aber wir müssen das Böse analysieren und all jenen helfen, die am Frieden arbeiten.
Das Thema Ihrer Frühlingsvorlesung in Graz lautet: „Im Kopf des Terrors: Wieso tötet der Mensch?“WALI: Böse Menschen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Das Böse ist in uns, wie ein Instinkt. Frieden und das Gute sind angelernte Haltungen. Das Problem ist nur, dass wir das Böse immer erst analysieren, wenn was passiert ist. Wir analysieren nicht den Menschen, bevor etwas passiert.
Sind Gewalt und Aggression – moralfrei betrachtet – nicht elementare Kräfte im Menschen, wie Sexualität, Hunger oder Sehnsucht nach Gemeinschaft? WALI: Der erste Mord, der Brudermord, steht in den Schriften aller drei Weltreligionen.
Kain und Abel. WALI: Vielleicht haben sie ja aber auch nur voneinander abgeschrieben (lacht). Die Terroranschläge im November in Paris haben mich an eine Erzählung von Jean-Paul Sartre erinnert, die auf den altgriechischen Brandstifter Herostratos zurückgeht. Sartre erzählt darin von einem Mann, der sich radikalisiert und in Paris Amok läuft. Die Erzählung hat er
INTERVIEW Najem Wali. Bagdad Marlboro. Hanser. 352 Seiten, 22,60 Euro. Die Liebe zur Poesie führt in der Kriegshölle einen US-Soldaten und einen irakischen Dichter zusammen. 1939 geschrieben. Nach dem Warum fragt man zu jeder Zeit.
In der Ilias von Homer kommt Odysseus nach jahrzehntelanger Irrfahrt nach Hause und ermordet erst einmal die Männer rund um seine Frau Penelope: Heutzutage würde man Odysseus einen Psychopathen nennen. Dabei ist die Ilias eine Säule unserer humanistischen Bildung. Seltsam? WALI: Ja, die Literatur ist voll von Kriegern. Aus heutiger Sicht ist Odysseus ganz klar ein Psychopath. Wenn das heute in einer europäischen Familie passiert, spricht man von Familiendrama, passiert es in der Türkei, spricht man von Ehrenmord.
Häufig hörte man von Tätern im Nationalsozialismus, dass sie nur ihre Pflicht getan hätten. Heute behaupten Terroristen, sie seien Gott verpflichtet. Woher rührt dieses Pflichtgefühl? WALI: Weil Gott nicht hier auf Erden ist, übernehmen sie die Rolle, die Gott ihrer Meinung nach hat. Das ist Absolutismus. In der Zeit des Nationalsozialismus hat der Gehorsam eine wesentliche Rolle gespielt, der Mensch ist unterwürfig. Heute sagen die Mörder des IS: Gott will das so. Oft sind es Kleinkriminelle, die denken, wenn sie etwas Großes im Namen Gottes machen, wird er ihnen die Taten verzeihen. Eine „gute Tat“im Namen Gottes – und sie kommen ins Paradies.
Unter Gewalttätern sind häufig sozial, psychisch oder intellektuell Schwache: Ist Gewalt das einzige Mittel für diese Menschen, um sich bemerkbar zu machen? WALI: Ja, bei denen funktioniert das am besten. Jeder von uns hat einen Haken im Leben, einen dunklen Fleck. Die meisten ISRekruten aus dem belgischen Molenbeek kommen aus kaputten Familien, sind in Belgien aufgewachsen, in der Schule gescheitert und in der Gesellschaft isoliert. Doch statt laut zu rufen,