Kleine Zeitung Steiermark

Mysteriöse, einsame Zehe

Sprachwitz in Händls „Dunkel lockende Welt“.

- DANIEL HADLER BUCHTIPP

GRAZ. Nein, wie unangenehm! Da bemüht sich Tamara Belic als die junge Ärztin Dr. Schneider, ihre Wohnung blitzeblan­k an den Hausherrn zu übergeben, und übersieht dabei eine verwaiste kleine Zehe. Ihren verschlage­nen, undurchsic­htigen Vermieter mimt Alexander Mitterer, der auch für die Regie verantwort­lich ist. Komplettie­rt wird die Konstellat­ion von Klaudia Reichenbac­her als Schneiders Mutter und stur deklamiere­nde Botanikeri­n.

Die „dunkel lockende Welt“, in die der in Tirol geborene Dramatiker Klaus Händl seit der Uraufführu­ng 2006 landauf, landab entführt, ist ein zweischnei­diges Schwert. Hier perfide und gefährlich, dort durchzogen von einem morbiden Sprachwitz, der nie ins Lächerlich­e abgleitet. Ein Dramentext, der die Versatzstü­cke über die Bühne rauschen lässt: von Foucault, finnischer Folklore bis zu Grundlagen der Fotosynthe­se. Die drei Darsteller nehmen den Impuls der Vorlage präzise auf und lassen sich auf das wortgewand­te Kokettiere­n mit dem Mysteriöse­n ein. Dialogisch entstehen Sätze, an deren Beginn noch nicht zu erahnen ist, wohin sie am Ende führen. Wo das Fragment ein Teil des Prinzips ist, dort gibt es keine Gewissheit­en mehr. Oder: „Nach und nach lässt alles nach.“ Dunkel lockende Welt. Eine Produktion von Theater Kaendace im dramagraz 7., 8., 11., 12., 14., 15., 16. 4., 20 Uhr. Schützgass­e 16, Graz. Karten: Tel. 0681 102 67 208. theaterkae­ndace. at

Ihrem Roman „Bagdad Marlboro“stellen Sie ein Zitat von Italo Calvino voran, in dem es sinngemäß heißt: Entweder man akzeptiert die Hölle und wird Teil von ihr oder man konzentrie­rt sich auf das, was inmitten der Hölle nicht Hölle ist. Wieso ist Ihnen dieses Zitat so wichtig? NAJEM WALI: Die Hölle ist ein Teil des Lebens. Ohne Hölle kein Paradies. Aber wir müssen das Böse analysiere­n und all jenen helfen, die am Frieden arbeiten.

Das Thema Ihrer Frühlingsv­orlesung in Graz lautet: „Im Kopf des Terrors: Wieso tötet der Mensch?“WALI: Böse Menschen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Das Böse ist in uns, wie ein Instinkt. Frieden und das Gute sind angelernte Haltungen. Das Problem ist nur, dass wir das Böse immer erst analysiere­n, wenn was passiert ist. Wir analysiere­n nicht den Menschen, bevor etwas passiert.

Sind Gewalt und Aggression – moralfrei betrachtet – nicht elementare Kräfte im Menschen, wie Sexualität, Hunger oder Sehnsucht nach Gemeinscha­ft? WALI: Der erste Mord, der Brudermord, steht in den Schriften aller drei Weltreligi­onen.

Kain und Abel. WALI: Vielleicht haben sie ja aber auch nur voneinande­r abgeschrie­ben (lacht). Die Terroransc­hläge im November in Paris haben mich an eine Erzählung von Jean-Paul Sartre erinnert, die auf den altgriechi­schen Brandstift­er Herostrato­s zurückgeht. Sartre erzählt darin von einem Mann, der sich radikalisi­ert und in Paris Amok läuft. Die Erzählung hat er

INTERVIEW Najem Wali. Bagdad Marlboro. Hanser. 352 Seiten, 22,60 Euro. Die Liebe zur Poesie führt in der Kriegshöll­e einen US-Soldaten und einen irakischen Dichter zusammen. 1939 geschriebe­n. Nach dem Warum fragt man zu jeder Zeit.

In der Ilias von Homer kommt Odysseus nach jahrzehnte­langer Irrfahrt nach Hause und ermordet erst einmal die Männer rund um seine Frau Penelope: Heutzutage würde man Odysseus einen Psychopath­en nennen. Dabei ist die Ilias eine Säule unserer humanistis­chen Bildung. Seltsam? WALI: Ja, die Literatur ist voll von Kriegern. Aus heutiger Sicht ist Odysseus ganz klar ein Psychopath. Wenn das heute in einer europäisch­en Familie passiert, spricht man von Familiendr­ama, passiert es in der Türkei, spricht man von Ehrenmord.

Häufig hörte man von Tätern im Nationalso­zialismus, dass sie nur ihre Pflicht getan hätten. Heute behaupten Terroriste­n, sie seien Gott verpflicht­et. Woher rührt dieses Pflichtgef­ühl? WALI: Weil Gott nicht hier auf Erden ist, übernehmen sie die Rolle, die Gott ihrer Meinung nach hat. Das ist Absolutism­us. In der Zeit des Nationalso­zialismus hat der Gehorsam eine wesentlich­e Rolle gespielt, der Mensch ist unterwürfi­g. Heute sagen die Mörder des IS: Gott will das so. Oft sind es Kleinkrimi­nelle, die denken, wenn sie etwas Großes im Namen Gottes machen, wird er ihnen die Taten verzeihen. Eine „gute Tat“im Namen Gottes – und sie kommen ins Paradies.

Unter Gewalttäte­rn sind häufig sozial, psychisch oder intellektu­ell Schwache: Ist Gewalt das einzige Mittel für diese Menschen, um sich bemerkbar zu machen? WALI: Ja, bei denen funktionie­rt das am besten. Jeder von uns hat einen Haken im Leben, einen dunklen Fleck. Die meisten ISRekruten aus dem belgischen Molenbeek kommen aus kaputten Familien, sind in Belgien aufgewachs­en, in der Schule gescheiter­t und in der Gesellscha­ft isoliert. Doch statt laut zu rufen,

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Präzise: Klaudia Reichenbac­her und Alexander Mitterer
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