DerverflogeneZauber des Neustarts
Die neue Große Koalition ist wieder dort, wo die alte aufgehört hat: bei der Politik der wechselseitigen Nadelstiche. Beide Regierungspartner drehen achtlos an der Eskalationsschraube.
Genau drei Wochen ist es her, dass das Kabinett Kern-1 angelobt wurde. Nie zuvor war die Aufbruchsstimmung so schnell verflogen wie diesmal. Kanzler und Vizekanzler haben sich als Tandem gefunden und sind sogar bereit, ein paar heilige Kühe zu schlachten. Gelänge die Verkleinerung der Sozialversicherung oder die Reform der Gewerbeordnung, könnte sich der Neustart sehen lassen.
Doch eine Regierung besteht nicht nur aus Kanzler und Vizekanzler. In der zweiten und dritten Reihe ist vor allem auf schwarzer Seite das Misstrauen gewaltig. Nicht wenige wollen dem unverbrauchten, smarten SPÖ-Chef den Umstieg in die Politik vermasseln und die Möglichkeit verbauen, als Kanzler Fuß zu fassen. Nur Mitterlehner hält – aus Überlebensinstinkt – Kern die Treue.
Bezeichnend für die Politik der verbrannten Erde war etwa die Reaktion des Wiener ÖVPChefs Gernot Blümel, eines engen Vertrauten des Außenministers, auf Kerns Ausrutscher bei den Flüchtlingszahlen: „Wenn der neue Kanzler die Obergrenzen aufweicht, kann er gleich wieder abdanken.“Bei der Kür des Rechnungshofpräsidenten probt ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka lieber den Alleingang und schickt eine Kandidatin ins Rennen, die die FPÖ beglückt und die SPÖ auf die Palme bringt.
Dass Außenminister Sebasti- an Kurz – ohne Not, ohne Anlass – ein zweifelhaftes Flüchtlingskonzept in die Welt setzt, das die rote Willkommenskultur-Fraktion in helle Aufregung versetzt, passt ins Bild. Im roten Koalitionslager biss man sich gestern auf die Zunge und schwieg, dafür meldeten sich einige Landeshauptleute zu Wort.
Schielen auf SPÖ-Parteitag
Umgekehrt brachte Kern mit der Maschinensteuer und der Arbeitszeitverkürzung das schwarze Lager gegen sich auf. Der Kanzler wollte wahrscheinlich weniger die ÖVP provozieren, Kern muss sich in drei Wochen beim SPÖ-Parteitag erstmals einer Wahl stellen und giert nach linken Stimmen. Ein Ergebnis unter 95 Prozent wäre eine mittlere Katastrophe.
Dass in der Koalition die Hakeln tief fliegen, ist nicht Ausdruck einer genetischen Prädisposition zur Boshaftigkeit in ge- wissen Kreisen. Eine solche vulgärpsychologische Erklärung greift zu kurz und übersieht das große Ganze. Unruhe, Misstrauen, Wadlbeißerei künden von der tiefen Krise der Großen Koalition, die die Spaltung der Ersten Republik überwunden und Österreich nach 1945 zu einem der reichsten Länder der Welt entwickelt hat.
Bei der Hofburgwahl haben die Bürger den rot-schwarzen Kandidaten den Rücken gekehrt. Im Zeitalter der Globalisierung stößt die nationale Politik an ihre Grenzen. Das Zeitalter des Verteilens ist Geschichte, die Parteichefs sind vor allem Gefangene ihrer Klientel. Nicht nur aus Gründen der Arithmetik erscheint eine Neuauflage der Großen Koalition nach der Wahl in ein, zwei Jahren undenkbar. SPÖ und ÖVP haben sich auseinandergelebt, für einen Neubeginn fehlen Kraft, Wille und die Vision.