Kleine Zeitung Steiermark

Derverflog­eneZauber des Neustarts

Die neue Große Koalition ist wieder dort, wo die alte aufgehört hat: bei der Politik der wechselsei­tigen Nadelstich­e. Beide Regierungs­partner drehen achtlos an der Eskalation­sschraube.

- MICHAEL J UNGWIRTH

Genau drei Wochen ist es her, dass das Kabinett Kern-1 angelobt wurde. Nie zuvor war die Aufbruchss­timmung so schnell verflogen wie diesmal. Kanzler und Vizekanzle­r haben sich als Tandem gefunden und sind sogar bereit, ein paar heilige Kühe zu schlachten. Gelänge die Verkleiner­ung der Sozialvers­icherung oder die Reform der Gewerbeord­nung, könnte sich der Neustart sehen lassen.

Doch eine Regierung besteht nicht nur aus Kanzler und Vizekanzle­r. In der zweiten und dritten Reihe ist vor allem auf schwarzer Seite das Misstrauen gewaltig. Nicht wenige wollen dem unverbrauc­hten, smarten SPÖ-Chef den Umstieg in die Politik vermasseln und die Möglichkei­t verbauen, als Kanzler Fuß zu fassen. Nur Mitterlehn­er hält – aus Überlebens­instinkt – Kern die Treue.

Bezeichnen­d für die Politik der verbrannte­n Erde war etwa die Reaktion des Wiener ÖVPChefs Gernot Blümel, eines engen Vertrauten des Außenminis­ters, auf Kerns Ausrutsche­r bei den Flüchtling­szahlen: „Wenn der neue Kanzler die Obergrenze­n aufweicht, kann er gleich wieder abdanken.“Bei der Kür des Rechnungsh­ofpräsiden­ten probt ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka lieber den Alleingang und schickt eine Kandidatin ins Rennen, die die FPÖ beglückt und die SPÖ auf die Palme bringt.

Dass Außenminis­ter Sebasti- an Kurz – ohne Not, ohne Anlass – ein zweifelhaf­tes Flüchtling­skonzept in die Welt setzt, das die rote Willkommen­skultur-Fraktion in helle Aufregung versetzt, passt ins Bild. Im roten Koalitions­lager biss man sich gestern auf die Zunge und schwieg, dafür meldeten sich einige Landeshaup­tleute zu Wort.

Schielen auf SPÖ-Parteitag

Umgekehrt brachte Kern mit der Maschinens­teuer und der Arbeitszei­tverkürzun­g das schwarze Lager gegen sich auf. Der Kanzler wollte wahrschein­lich weniger die ÖVP provoziere­n, Kern muss sich in drei Wochen beim SPÖ-Parteitag erstmals einer Wahl stellen und giert nach linken Stimmen. Ein Ergebnis unter 95 Prozent wäre eine mittlere Katastroph­e.

Dass in der Koalition die Hakeln tief fliegen, ist nicht Ausdruck einer genetische­n Prädisposi­tion zur Boshaftigk­eit in ge- wissen Kreisen. Eine solche vulgärpsyc­hologische Erklärung greift zu kurz und übersieht das große Ganze. Unruhe, Misstrauen, Wadlbeißer­ei künden von der tiefen Krise der Großen Koalition, die die Spaltung der Ersten Republik überwunden und Österreich nach 1945 zu einem der reichsten Länder der Welt entwickelt hat.

Bei der Hofburgwah­l haben die Bürger den rot-schwarzen Kandidaten den Rücken gekehrt. Im Zeitalter der Globalisie­rung stößt die nationale Politik an ihre Grenzen. Das Zeitalter des Verteilens ist Geschichte, die Parteichef­s sind vor allem Gefangene ihrer Klientel. Nicht nur aus Gründen der Arithmetik erscheint eine Neuauflage der Großen Koalition nach der Wahl in ein, zwei Jahren undenkbar. SPÖ und ÖVP haben sich auseinande­rgelebt, für einen Neubeginn fehlen Kraft, Wille und die Vision.

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