„Sultan“Erdogan˘ außer Rand und Band
Armenier-Resolution, Erzfeind Gülen, kritische Redakteure, respektlose Schönheitsköniginnen: Der türkische Präsident kämpft an vielen Fronten.
Die Türkei: ein großes Land. An der Spitze: Recep Tayyip Erdogan.˘ Der Präsident ist mehr als ein Staatsoberhaupt. Er zieht die Fäden in Ankara. Nach der Ablösung des widerborstigen Premiers Ahmet Davutoglu,˘ den er durch seinen loyalen Gefolgsmann Binali Yildirim ersetzte, hat Erdogan˘ noch mehr Einfluss – und alle Hände voll zu tun.
Die Vorwoche war besonders ereignisreich. Sie begann mit einer Massenkundgebung zum 563. Jahrestag der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken. Der Präsident rief, und eine Million Menschen strömte zur Feier am Ufer des Marmarameeres. Erdogan˘ schwelgt gern in der Grandeur der Osmanenära, die er wiederbeleben möchte.
Umso empfindlicher reagiert er, wenn jemand in seinen Augen das Bild dieser glanzvollen Epoche beschmutzt – wie der Deutsche Bundestag, der am vergangenen Donnerstag eine Resolution verabschiedete, in der die Armenierverfolgungen 1915/16 im Osmanischen Reich als Völkermord bezeichnet werden. Das lässt den Präsidenten ruhelos.
In einer Rede an der Istanbuler Sabahattin-Zaim-Universität verbat sich Erdogan˘ am Sonntagabend deutsche Kritik an den Armenierverfolgungen: „Deutschland, ich sage es dir noch einmal: Zunächst musst du Rechenschaft über den Holocaust ablegen.“Erdogan˘ erinnerte an den deutschen Völkermord an den Herero in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Deutschland sei „das letzte Land“, dem ein Votum über einen Genozid zustehe. Vor allem die elf deutsch-türkischen Abgeordneten, die für die Resolution gestimmt hatten, nahm er ins Fadenkreuz. „Manche behaupten, das seien Türken“, sagte Erdogan˘ „Was sollen das für Türken sein?“, fragte er und forderte: „Ihr Blut muss per Labortest untersucht werden.“Bereits tags zuvor hatte Erdogan˘ erklärt, die türkischstämmigen Mandatare hätten „nichts mit dem Türkentum gemein, denn ihr Blut ist unrein“.
Gekränkte Ehre
Der Präsident kämpft an vielen Fronten. Er fühlt sich von Verschwörern und Feinden umgeben, wie Merve Büyüksaraç. Ein Istanbuler Gericht verurteilte am Dienstag der Vorwoche die frühere „Miss Turkey“zu 14 Monaten Haft auf Bewährung. Das 27jährige Model hatte im Internet ein satirisches Gedicht über Erdogan˘ verbreitet. Die Richter sahen darin eine Beleidigung Erdogans.˘ Seit dessen Wahl zum Präsidenten im August 2014 wurden in der Türkei fast 2000 Klagen wegen Präsidentenbeleidigung angestrengt, viele davon auf Erdogans˘ persönliche Initiative.
Für manche Gegner reicht die Fliegenklatsche des Beleidigungsparagrafen, gegen andere fährt Erdogan˘ größeres Geschütz auf. Die Anhänger seines Widersachers Fethullah Gülen werden nunmehr offiziell als „Gülenistische Terrorgruppe“eingestuft und verfolgt. Erdogan˘ entzweite sich 2013 mit seinem ehemaligen Verbündeten Gülen, einem islamischen Prediger, der im Exil in den USA lebt. In Gülen sieht Erdogan˘ den Drahtzieher der Kor- ruptionsvorwürfe, die Ende 2013 gegen ihn hochkamen.
Kein Wunder, dass sich Erdogan˘ jetzt gegen die von der EU geforderte Reform der Anti-TerrorGesetze sträubt – sie sind seine wichtigste Waffe im Kampf gegen Gegner wie Gülen. Auch kritische Journalisten lässt Erdogan˘ mit diesen Gesetzen verfolgen. Anfang Mai verurteilte ein Gericht in Istanbul zwei Redakteure der oppositionsnahen Zeitung „Cumhuriyet“zu langjährigen Haftstrafen. Sie hatten über angebliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Extremisten in Syrien berichtet.
Tipps zur Familienplanung
Neben dem unermüdlichen Kampf gegen Kritiker findet Erdogan˘ immer noch Zeit, seinen Landsleuten praktische Lebenshilfe zu geben. So mahnte er unlängst die türkischen Frauen, „unsere Nachfahren zu multiplizieren, unsere Generationen zu vermehren“. Mindestens drei Kinder müsse jede Familie großziehen, so Erdogans˘ Vorgabe. Geburtenkontrolle? „Keine muslimische Familie darf so etwas tun“, warnte der Präsident.
Während Kritiker Erdogan˘ vorwerfen, er trete Frauenrechte mit Füßen, laufen schon die nächsten Ermittlungen wegen Präsidentenbeleidigung. Nach Schönheitskönigin Büyüksaraç kommt der Regisseur Mustafa Altıoklar an die Reihe. Die Justiz ermittelt Ein Spektakel ganz nach Erdogans˘ gegen ihn, weil er sich in sozialen Medien spöttisch über das Massenspektakel zur Eroberung Konstantinopels äußerte. Die Kundgebung stand übrigens unter dem Motto „Wiederauferstehung“. Der türkische Kolumnist Ertug-˘ rul Özkök kommentierte: „Auch ich wünsche mir eine Wiederauferstehung: eine freie Presse in meinem Land, einem Land, in dem die Menschen ohne Angst leben und ihre Meinung äußern können, eine unabhängige, unvoreingenommene Justiz . . .“